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Am späten Nachmittag tobte Mausi Böhrnsen zur Wachstube herein, warf sich mit dem Oberkörper über den Tresen, trommelte mit ihren Fäusten auf das Holz und schluchzte die Frage heraus, ob jemand wüsste, wo ihr Vater abgeblieben sei.

Asmus, der noch mit dem Protokoll zum Verhör von Böhrnsen befasst war, atmete tief durch. »Fräulein Böhrnsen, wir haben Ihren Vater vorläufig festgenommen, um ihn morgen mit dem Vormittagsdampfer aufs Festland zu schicken. Er wird dem Untersuchungsrichter in Husum vorgeführt.«

»Warum? Was hat er denn getan?«

»Er hat sich einer Körperverletzung mit Todesfolge schuldig gemacht.«

»An wem?«, fragte Mausi verblüfft.

»An Ferdinand Schröder, in der Nacht des Tanzabends.«

»An dem Kommunisten aus Flensburg?« Beinahe hätte sie gelacht.

Mitgefühl sprach nicht aus ihr. Dennoch war es Asmus nicht entgangen, dass sie ihn dem Namen nach kannte und dieser Mann Familiengespräch gewesen sein dürfte. »Der Mann wurde von Ihrem Vater angegriffen, fiel vom Motorrad und kam dabei zu Tode.«

»Wahrscheinlich hat Papa ihn nur erschrecken wollen, weil er hier auf Sylt doch nichts zu suchen hat. Und wenn er dann so ungeschickt hinfällt … Wer kann denn dafür was?«

»Nun, Fräulein Böhrnsen, die Tatsachen stellen sich etwas anders dar, als Sie vermuten. Der Richter wird die Wahrheit ermitteln.«

»Ja. Umso besser.« Mausi ließ ihre Zähne sehen, die Asmus spitzer und wehrhafter wahrnahm, als sie in Wirklichkeit sein konnten.

Jedenfalls erinnerte sie ihn plötzlich an eine in die Enge getriebene bissige Ratte.

»Mit Ihrer Ankunft hat sich hier wohl allerlei geändert, dabei sind Sie doch nur allerniedrigster Rang«, versetzte Mausi gehässig. »In Husum werden sie besser wissen, was Sylt meinem Papa zu verdanken hat.«

Asmus verzog keine Miene. »Darf ich Sie hinausbegleiten?«

»Ich ziehe Lorns als Begleiter vor«, blaffte Fräulein Böhrnsen und schritt hocherhobenen Hauptes in den Flur hinaus, in den ihr Matthiesen nach einem erschrockenen Blick auf Asmus folgte.

Asmus zog hinter ihnen die Tür zu. Im Flur war kein Mensch zu sehen. Nicht einmal der Wachraum war besetzt.

Während Asmus auch für das Gespräch mit Mausi Böhrnsen ein Gedächtnisprotokoll anlegte, war er sich sehr wohl klar darüber, dass er sich endgültig Feinde innerhalb der Belegschaft geschaffen hatte. In erster Linie Sinkwitz, aber dem folgte Oberwachtmeister Jung wie das Schwänzchen dem Lamm.

Sinkwitz hätte den Todesfall Schröders als Unfall durchgehen lassen, um nicht in die Situation zu geraten, dessen privaten Besuch in der Wache erklären zu müssen. Jetzt war ihm das unmöglich gemacht worden. Darüber hinaus hatte er dienstlich den Anschein eines guten Einvernehmens zwischen Polizei und Kaufmannschaft aufrecht halten wollen – auch das hatte Asmus durch seine Aufklärung zunichte gemacht.

Asmus stieß einen tiefen Seufzer aus und legte den Füllfederhalter beiseite. Er beabsichtigte nicht, die allgemeinen Rechtsnormen der Länder des deutschen Reichs dem inselspezifischen Reglement zu opfern. Aber er sah voraus, dass es schwierig werden würde. Inzwischen hatte er eine überraschende Erkenntnis gewonnen: Sylt war eine weitgehend autarke Gemeinschaft. Und je mehr die maßgebenden Mitglieder einer abgeschiedenen Gemeinschaft miteinander verflochten waren, desto größer wurde die Gefahr eines selbstgestrickten Rechtssystems.

Am späten Nachmittag schon wurde Asmus die Richtigkeit seiner Überlegungen bestätigt. Vor der Polizeiwache wurden Stimmen laut, die sich schließlich zu einem Chor zusammenfanden. Es hörte sich wie ein beginnender Aufruhr an.

»Ich gehe mal nachsehen«, erbot sich Matthiesen freiwillig, was von allen Anwesenden dankbar angenommen wurde.

Der Lärm vor dem Haus schwoll an. »Boy Fuhrmann! Boy Fuhrmann!«, wurde skandiert, aber Asmus widerstand der Anwandlung, hinauszugehen und nachzusehen, wer da protestierte.

Lorns kam zurück und legte sich mit ganzem Oberkörper auf den Tresen, hinter dem Asmus saß. »Das sind wütende Kaufleute in Sonntagskleidung. Sie wollen, dass wir Böhrnsen herausgeben. Und man kann es kaum glauben: Sie haben die Schulkinder von Keitum bei sich, die stehen in vorderster Reihe, schwenken Fähnchen und brüllen aus vollen Kehlen mit.«

»So etwas habe ich befürchtet!« Sinkwitz war, ohne dass sie es bemerkt hatten, gekommen. »Genau das!«

»Herr Oberwachtmeister, wir verzichten doch nicht auf eine Festnahme, weil die Kaufleute dagegen sind!«

»Zuweilen gibt es klügere Wege«, antwortete Sinkwitz spitz.

»Übrigens …«, Asmus wandte sich an Lorns, »was für Fähnchen schwenken denn die Keitumer Kinder?«

Matthiesen runzelte die Stirn. »Sie sind hauptsächlich rot, aber sehr kurz. Irgendwie verstümmelt …«

»Halbierte Fähnchen mit halbem Hakenkreuz, wetten?«

»Ja, da hast du recht«, stimmte Lorns erschrocken zu. »Genau so.«

»Die sind nicht einmal verboten, aber man weiß, was gemeint ist.« Asmus schüttelte missmutig den Kopf. Mausi Böhrnsen war die Tochter ihres Vaters. Er zweifelte nicht daran, dass dies alles ihrem Kopf entsprungen war.

»Und jetzt?«, erkundigte sich Lorns und sah von Asmus zu Sinkwitz.

»Wir werden sie beruhigen und nach Hause schicken«, erklärte Asmus.

»Das machen Sie, Asmus! Es ist Ihre Angelegenheit«, kläffte Sinkwitz und stiefelte in sein Büro zurück.

»Ja, völlig richtig.« Asmus hätte sich diese Verantwortlichkeit nicht aus der Hand nehmen lassen mögen. Nichtsdestotrotz war es von einem Vorgesetzten natürlich unverantwortlich, sich für nicht zuständig zu erklären, ganz gleich, was passiert war. Sinkwitz hätte auch den unbedarften Matthiesen als Schlachtlamm hinausgeschickt, darüber war sich Asmus nach diesen ersten Wochen in Westerland deutlicher im Klaren als vielleicht Lorns.

Als Asmus sich in der Tür zeigte, wurde aus dem Lärm Gebrüll. Es war bekannt, dass er Böhrnsens Festnahme veranlasst hatte. Er legte die Hände auf den Rücken und ließ die Männer schreien. Währenddessen musterte er sie aufmerksam. Einer nach dem anderen verstummte, unsicher geworden, weil er sich nicht beeindrucken ließ, vielleicht auch aus Furcht davor, sich selbst verantworten zu müssen. Nur Mausi krakeelte aus Leibeskräften und schlug mit den Armen den Takt, um die Männer mitzureißen.

Schließlich senkten auch die Kinder die Fähnchen und sahen sich nach den Erwachsenen um.

Das war Asmus’ Signal. »Leewe Lüd«, begann er. »Liebe Leute. Ich verstehe, dass ihr euch für einen als ehrenwerter Kollege bekannten Freund einsetzt. Aber er hat in tiefer Nacht einen ihm unbekannten Mann angegriffen und seinen Tod verursacht. Wir sind genötigt, diesen Tod zu untersuchen, dafür sind wir da. Ich vermute, wenn es einen von euch getroffen hätte, würde er nicht wollen, dass die Tat eines Totschlägers unter den Teppich gekehrt wird. Oder?«

Antwort erhielt er nicht.

»Ihr gehört doch der ehrenwerten Zunft der Kaufleute an? Früher nannte man sie so, und ich bin ganz sicher, dass dieser Geist auch in der Kaufmannschaft von Sylt erhalten geblieben ist.«

»Wieso vermutest du das?«, brüllte jemand aus dem Hintergrund ungehalten.

»Meine Heimat ist die Hansestadt Rostock. Meine Brüder sind Reeder. Kaufleute wie ihr. Alle Kaufleute sind einander verbunden.«

Offene Zustimmung erhielt Asmus nicht, jedoch stillschweigende. Die meisten Männer drehten sich um und trotteten zu zweit oder zu dritt flüsternd davon. Einer der letzten Eindrücke, die in Asmus’ Gedächtnis haften blieben, war Lehrer Honke Paulsen, der die halben Fähnchen einsammelte und dann die Kinder mit ausgebreiteten Armen vor sich her fortscheuchte.