Meier verschlug es im ersten Augenblick die Sprache. »Ich werde mich erkundigen, ob Sie wenigstens jetzt die Wahrheit sagen«, erklärte er dann, betrat das Geschäft und schlug die Tür hinter sich zu.
Sinkwitz und Böhrnsen mussten sich zerstritten haben, da der Fuhrunternehmer seinem früheren Gefolgsmann ja einen Denkzettel hatte erteilen wollen. Dennoch war Asmus unklar, wie weit das Zerwürfnis ging und ob nicht sein Chef Böhrnsen zur Flucht verholfen hatte.
Unter diesen Umständen wäre es unklug gewesen, Sinkwitz nochmals darauf aufmerksam zu machen, dass er nach Langeneß fahren wollte. Wenn dieser es untersagte, konnte Asmus dem Befehl nicht zuwider handeln, selbst wenn die Wahrscheinlichkeit, dass Böhrnsen tatsächlich auf der Hallig war, sich dadurch etwas erhöhte.
Das hieße also, ohne Genehmigung mit der Franziska nach Langeneß zu segeln. Asmus schlug im Segel-Handbuch die Wattstraßen nach und stellte zu seinem Ärger fest, dass die Tiefs an vielen Stellen nicht ausgeprickt und nur durch genaue Befolgung der Anweisungen von Kurswechseln anhand von Landmarken zu besegeln waren. Für Unkundige eine schwierige Strecke.
Wieder einmal wanderte er zu Bahnsen hinüber, um sich mit ihm zu beraten. Der bestätigte ihm, dass außer bei sichtigem Wetter nur Einheimische, die die Strecke kannten, sie segeln sollten. Für alle anderen sei sie zu unberechenbar, insbesondere die Föhrer Ley, womit Wyk als erster Anlaufhafen ausfiel. Über das Festland zu reisen könnte Tage dauern, meinte er.
Asmus verfiel ins Grübeln. Keiner außer ihm auf der Wache hatte Seeerfahrung, und selbst seine reichte für dieses Revier nicht aus. Dass er heil hergekommen war, war wohl hauptsächlich dem Glück zuzuschreiben.
»Ich kann mitfahren, wenn es dir recht ist«, bot der Werftbesitzer an.
Asmus stutzte. »Das wäre ja großartig! Nur ist es unmöglich, weil es sich um eine Dienstreise handelt.«
»So fährst du eben privat. Reiche um Urlaub ein.«
»Das dauert zu lange. Bis dahin kann der Kerl über alle Berge sein.«
»Dann ohne Uniform. Nimm sie nur zur Vorsicht mit. Übrigens glaube ich eher, dass Boy sich auf der Hallig sicher wähnt. Für Revierfremde ist sie auf eigenem Kiel von Sylt aus nur schwer erreichbar, wie ich schon sagte. Und er kennt Sinkwitz und seine Abneigung gegen die See, die er übrigens teilt …« Bahnsen blinzelte Asmus zu, während seine Frau die Hände in die Seiten stemmte und den Kopf schüttelte.
»Hans Christian, du bist zu alt für Abenteuer …«, tadelte sie.
Aber Asmus hatte Blut geleckt. »Ich verhole die Franziska an die Pier, sobald die Fähre abgelegt hat«, überlegte er laut. »Mit Proviant …«
»Den übernehmen wir«, bestimmte Hans Christian. »Gekochte Kartoffeln, gekochte Eier, ein Schinken und Brot sollten für drei Tage reichen.«
»Und Pfefferminztee.« Die Hausfrau schmunzelte geschlagen. »Bier fällt aus Sicherheitsgründen weg.«
Bahnsen sprang auf und umarmte seine Frau. »Du bist die Beste«, raunte er.
Das Segelhandbuch war nicht auf dem neuesten Stand, wie er ja schon an der nicht mehr vorhandenen Munkmarscher Mühle gesehen hatte. Andererseits gab es mehr Pricken als beschrieben. Trotzdem war die Strecke mit Ostkurs zum Horsbüller Kirchturm und mehr südlichem Kurs auf die Emmelsbüller Kirche zu sowie einigen Baken an der Föhrer Schulter recht fordernd. In der Föhrer Ley rutschten sie bei beginnendem Niedrigwasser noch gerade über die Strecke rüber, die später trockenfallen würde.
Bahnsen lachte nur. »Dem Ebbwasser drehen wir eine Nase«, verkündete er. »Früher konnte man übrigens in jedem breiten Priel von Langeneß und Nordmarsch anlegen. Seitdem die Steinkante zum Schutz des Ufers gebaut wurde, geht das nicht mehr. Dafür gibt es den Hafen Ilef an der Westseite der Hallig. Zu welcher Warf müssen wir?«
»Zur Ketelswarf. Aber man hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass Böhrnsen auch in der einzigen Kneipe zu finden sein könnte.«
»Auf der Warf Hilligenlei. Stimmt. Da sollten wir zuerst nachsehen. Ist nur ein paar Minuten vom Hafen entfernt. Zur Ketelswarf marschieren wir mehr als eine Stunde.«
Bahnsen saß an der Ruderpinne, als sie auf die Einfahrt des Ilef zwischen den steinernen Molenköpfen zuhielten, und gab Asmus das Zeichen, das Großsegel einzuholen. Von den Molen hoben Kormorane und Eiderenten ab, um sich im Priel außerhalb des Hafens im Wasser niederzulassen. Währenddessen glitt unter leisem Plätschern die Franziska durch das runde Hafenbecken auf einen hölzernen Steg zu, an dem schon zwei Fischerboote lagen.
Hilfreiche Hände nahmen die angereichte Festmacherleine entgegen und packten ein Want, um den Neuankömmling in die Lücke zwischen den Schiffen zu lenken. Ruckzuck waren sie im Hallighafen fest.
»Aus Rostock seid ihr. Nicht schlecht, nicht schlecht. Weite Fahrt mit dem Bötchen. Prost!« Einer der Fischer hob die Flasche und prostete den Neuankömmlingen zu, die kurz nach dem Belegen aller Leinen schon Bier herübergereicht bekommen hatten.
Asmus betrachtete die Flasche kurz. Holländische Aufschrift. Schmuggelware? Aber deswegen war er nicht hier. Ein Bier konnte man nach dem langen Tag mit Pfefferminztee wirklich aus vollem Herzen genießen.
Nach einigen unverbindlichen Sätzen mit woher und wohin verschwanden die Fischer nach unten, und der Duft von gebratenem Fisch stieg nach oben. Asmus tischte Hans Christian im Cockpit auf, was dessen Hausfrau ihnen mitgegeben hatte. Es schmeckte köstlich, zumal sie unterwegs zu konzentriert gewesen waren, um auch nur ein Ei nebenher zu verschlingen.
Nach dem letzten Schluck aus der Bierflasche stieß Asmus einen Seufzer aus. Im Westen flimmerte der Sonnenball kurz vor dem Untergehen über dem Horizont, darüber ballten sich einige harmlose Wolken und tauchten den Himmel in einen helleren und einen dunkleren rötlichen Schein. Irgendwo schrien Möwen, die noch einen Fischschwarm entdeckt hatten. Es war ein friedlicher Abend.
Asmus stieg nach unten und kam mit den Handschellen zurück, die er leise klimpern ließ. »Ich muss los nach Hilligenlei, da hilft alles nichts, Hans Christian.«
»Gut, gehen wir.« Bahnsen nahm die Bierflaschen von der Back und stellte sie nach unten, damit sie bei einem unerwarteten Wellenschlag keinen Schaden anrichteten. Dann war er mit einem Satz oben auf dem Kai.
»Du doch nicht!«
»Natürlich ich! Wer sollte dir sonst den Schlüssel für die Handschellen reichen?«
Asmus grinste. »Solcher Komfort ist bei uns für gewöhnlich unbekannt. Aber einen eigenen Schlüsselträger zu haben, ist bestimmt nicht schlecht. Ich werde einen Antrag für dieses neue Amt einreichen müssen.«
»Tu das. Hilligenlei ist die Warf links neben der Kirchhofwarf. Siehst du sie?«
Asmus nickte. Allzu weit war es nicht. Die Entfernung wäre auch nur dann ein Problem, wenn er den Gesuchten tatsächlich zu fassen bekam, der sich aber sträubte, zum Hafen zu gehen. In dem Fall musste er einen Karren mieten, wenn es denn so etwas hier gab, um den Gefangenen zu verladen.
Zu sehen war ein zweispuriger Weg, sonst nur Gras, soweit das Auge blickte, in der Ferne weiße Punkte, vermutlich eine Schafherde, es konnten aber auch Möwen sein. »Also los«, sagte er entschlossen.
Die Kneipe war voll mit Männern. Es roch nach Schweiß, Bratfett und Fisch.
Bahnsen blieb auf Asmus’ Bitte an der Tür stehen, während er sich selber den Weg zum Tresen bahnte.
Der Kneipenbesitzer hob erstaunt die Augenbrauen. »Gerade eben eingelaufen?«
Asmus bestätigte. »Ich bin Wachtmeister Asmus von Westerland. Ich suche Boy Böhrnsen.«
Der Wirt stutzte, schien völlig verwirrt und antwortete nicht, aber er konnte nicht verhindern, dass sein Blick in eine Ecke wanderte, in der an einem runden Tisch fünf Männer Karten spielten.
Einer von ihnen war Böhrnsen. Asmus zog behutsam die Handschellen aus seinem unverfänglichen Einkaufsbeutel und schlängelte sich zum Ecktisch durch. Ein Seitenblick belehrte ihn, dass Bahnsen sich inzwischen Hilfe geholt hatte, vermutlich von dem Vetter, von dem er unterwegs erzählt hatte. Jedenfalls verstellte neben ihm ein weiterer Mann den Ausgang.