»Nimm dich bloß in Acht«, warnte Matthiesen besorgt. »Ich würde dich nicht gerne verlieren, jetzt, wo ich weiß, dass du kein Duckmäuser bist und ein loses Maul hast.«
»Ist zuweilen schwierig«, grummelte Asmus.
»Glaube ich ja. Wir haben dann noch einen weiteren Kollegen, den Wachtmeister Jep Thamsen, der nicht unrecht ist, aber uninteressiert an allem. Mit Schmeichelei schafft er, dass du eine seiner Pflichten übernommen hast und gar nicht weißt, wie du dazu gekommen bist.«
»Manchmal klappt es mit Erziehung«, warf Asmus ein.
»Einen Älteren im höheren Rang zu erziehen ist schwierig.«
Da hatte er natürlich recht. Asmus war in einer anderen Position gewesen. »Was ist das für ein Fall ohne Namen, den Jep und Jung klären sollen?«
»Anscheinend ein Landstreicher, jedenfalls kein Sylter, der tot am Strand gefunden wurde. Herzattacke vielleicht oder Hunger. Soll ein schmales Hemd sein.«
»Kann Jung solche Fälle klären? Hat er darin Erfahrung? Und vor allem: Geht er ihnen mit allem Nachdruck nach?«
Matthiesen zuckte die Schultern. »Nur, wenn er ihm irgendetwas für sein Fortkommen einträgt, schätze ich. Aber ›Landstreicher‹ hört sich nicht danach an. Und Jep dackelt sowieso nur hinterher.«
Zwei Stunden später hatte Asmus schon eine ganze Menge von Westerland zu sehen bekommen und erfahren, dass die Diebstähle beachtlich zugenommen hatten, seitdem nach dem Krieg die Armut der Bevölkerung in rasender Geschwindigkeit wuchs. Auch auf Sylt war die Inflation angekommen, wie überall.
»Wir haben auch Streitereien in Hotels zu schlichten«, erzählte Matthiesen bedrückt. »Das ist früher nie vorgekommen, wir waren doch so stolz darauf, dass wir Wyk auf Föhr mit unseren illustren Gästen überholt hatten. Aber mittlerweile glauben auch reiche Badegäste, dass sie einem Betrug aufgesessen sind, wenn sie bei der Abfahrt bezahlen wollen und die Kosten innerhalb von vier Wochen um das Dreifache gestiegen sind. Stell dir vor, jetzt werden wir gerufen, um Hoteldirektoren vor gewalttätigen Baronen zu retten. Bis wir ankommen, sind häufig Vitrinen zerschlagen, Teegeschirr liegt auf dem Boden, und mittendrin schwimmt der gute Kognak.«
»Du liebe Zeit!«
»Ja. Dabei geht es in den Unterkünften ehrlich zu. Es gibt einen Hotelindex, den der Reichsverband der Hotels und der Bäderverband gemeinsam festsetzen. Daraus wird ein Multiplikator festgesetzt, der mit den Friedenspreisen multipliziert wird, und daraus ergibt sich jede Woche der neue Preis für Logis und Essen.«
»Dann werdet ihr wohl bald keine Gäste mehr haben«, mutmaßte Asmus nüchtern.
»Ja, genau. Und das schürt Unruhe. Sylt war einmal eine friedliche Insel von Bauern und Fischern, aber seitdem man in der Stadt Westerland und in Dörfern wie Kampen erkannt hat, dass sich Unmengen von Geld aus den Sommerfrischlern herausholen lässt, sind zahllose Fremde eingewandert, die einen Kampf um die Gäste entfesselt haben. Die Ursylter machen mit. Und jetzt sollen diese schönen Aussichten auf Reichtum plötzlich wegen der Inflation dahin sein? Weder die Hoteliers noch die Kaufleute lassen sich das gefallen. Ich sage dir, Niklas, uns stehen düstere Zeiten bevor.«
»Da könntest du recht haben. Das ist wie überall.«
Als sie auf der Kurpromenade vom Burgenstrand bis zum Musikpavillon und wieder zurück zur Höhe der Friedrichstrasse gekommen waren, entdeckte Asmus eine Buchhandlung, in der er einen Stadtplan kaufte. Dann fiel ihm noch etwas ein. »Sag mal, Lorns, kannst du mir einen ehrlichen Händler von Motorrädern empfehlen? Ich weigere mich, die Strecke von Munkmarsch nach Westerland mit dem Fahrrad zurückzulegen. Bei Sturm, bei Gewitter und Regen … Und ein Motorrad zum Preis von heute wird preiswerter sein als eine Unterkunft in Westerland, deren Kosten jede Woche steigen.«
»Du willst wirklich auf deinem Boot wohnen?«
»Ich habe es vor. Was im Winter ist, muss ich sehen. Vielleicht hat die Regierung bis dahin die Inflation im Griff.«
Lorns nickte bedächtig. »Ich bin dankbar, dass meine Schwiegereltern einen Hof haben. Meine Frau und ich wohnen in der Abnahme. Der Altenteilerwohnung. Der Gemüsegarten gibt genug her für uns vier. Hühner und drei Schweine sind auch da. Wir müssen nicht hungern. Aber hier in der Stadt sieht es bei manchen Leuten düster aus …«
»Und Fischer? Wird gefischt?«
»Fische kosten auch Geld. Überdies fürchten die Fischer, dass der neue Festlandsdamm die Fischerei erschweren wird. Die Fische müssen sich auf andere Strömungen einstellen, vielleicht bleiben sie ganz weg. Und was mit den Austernbänken wird, steht auch in den Sternen. Ich kann es nicht beurteilen.«
»Ja, ich kann ihre Ängste verstehen.« Asmus wusste aus seiner Erfahrung als Segler, wie berechtigt diese Befürchtungen waren. Fische, die sich ins tiefere Wasser zurückzogen, und sei es nur vorübergehend, mochten für die Fischer mit kleinen Booten gar nicht mehr erreichbar sein. »Wer hat euch denn den Damm aufgezwungen?«
»Oh, von Aufzwingen kann gar nicht die Rede sein«, widersprach Lorns. »Westerland ist ein Seebad, wie es sie in England geben soll, ein richtiges Weltbad sogar. Hier kuren die Reichen, meist mehrere Wochen lang. Die Älteren erzählen noch vom Besuch der Königin von Rumänien, aber außer ihr kamen Prinzen, Herzöge, Präsidenten und Minister, alle mit Kindern und Dienstboten. Vor dem Weltkrieg soll hier enorm viel los gewesen sein. Das brachte Geld.«
»Und jetzt?«
»Ja, so richtig hat Sylt sich nach dem Krieg noch nicht erholt.«
»Du wolltest mir vom Damm erzählen.«
»Ja, richtig. Was meinst du wohl, wer alles an einer schnellen Verbindung vom Festland nach Sylt interessiert ist: Hoteliers, Inhaber von Pensionen, Kaufleute, Restaurantbesitzer, Strandkorbvermieter, Fuhrleute, Reitstallbesitzer, Badefrauen, Holzhändler, die Gemeinden wegen der Kurtaxe und, und, und.«
»Aha.«
»Auch die Dörfer haben schon seit längerem angefangen, ihren eigenen Nutzen aus der künftigen schnellen Verbindung nach Berlin zu ziehen. In Kampen, beispielsweise, sammeln sich die bekanntesten Künstler, und die ziehen wiederum anderes Volk an, das mit der Bekanntschaft von solchen Leuten angeben möchte. Am Strand pflegen die Künstler FKK, und das ist natürlich etwas so Mondänes, da muss man mitmachen.«
»Was ist das?«
»Freikörperkultur. Der erste Nacktbadestrand in Deutschland, auf dem Männlein und Weiblein sich gemeinsam unbekleidet tummeln dürfen. Den gibt es seit zwei Jahren.«
»Wirklich?« Asmus grinste breit.
»Ja, bestimmt. Anfangs gab es Aufstände in der Bevölkerung, jedenfalls in allen Dörfern außer Kampen wegen der erwarteten Zügellosigkeit und der mangelnden Moral der Künstler. Aber dann hat man in Heller und Pfennig ausgerechnet, wie viel die Rückkehr zur sogenannten Moral kosten würde. Die Vernunft siegte – es würde zu teuer werden. Seitdem tragen sich auch andere Orte mit Plänen, FKK-Strände einzurichten, Westerland vorneweg.«
Während ihres Gesprächs waren sie zur Promenade zurückgebummelt, weil Matthiesen diese am unterhaltsamsten fand. Zwar war die Luft warm, aber das Wasser war zu kalt zum Baden. Die Strandkörbe waren besetzt, aber nur einzelne Spaziergänger wanderten über den Sandstrand, manche mit Hunden.
»Für Mai immer noch zu wenig los«, bemerkte Lorns kritisch, »obwohl es gegen Mittag geht.«
Asmus gab ein Grummeln von sich, das man als Zustimmung interpretieren konnte. Möglicherweise war man hier durch die Fremden schon zu verwöhnt gewesen, um zu bemerken, wie schlecht es dem übrigen Deutschland ging. Mit nur zu wenig los war die Gefahr nicht beschrieben, in die Deutschland gerade hineinrutschte. Hoffentlich endete nicht alles im Chaos durch Aufstände aus Not oder Putsche der unterschiedlichsten politischen Richtungen.
Aber seine Sache, einen Sylter aufzuklären, war es nicht. »Die Leute wirken irgendwie abweisend, wo immer wir Polizisten auftauchen«, sagte er stattdessen. »Oder sehe ich das falsch?«