»Hast du eigentlich eine Ahnung, wo Böhrnsen stecken könnte?«, erkundigte sich Jung, als er zurück war.
»Nein, aber ich denke, dass er auf Sylt ist«, antwortete Asmus. »Wir hatten ihn zu seiner Überraschung schnell, als er nach Langeneß geflohen war, und er muss vermuten, dass wir ihm unbekannte Helfer haben, die jetzt die Häfen überwachen. Das wird ihn vorsichtig machen.«
»Und welche Helfer hatten wir?«
»Ach, diesen und jenen. Man hört mal hier, mal da etwas.« Asmus würde sich nicht auf ein aufmerksames achtjähriges Mädchen berufen, aber auch ohne Line hätte er seine Kontaktleute nicht genannt.
Matthiesen beugte sich tiefer über den Schreibtisch, damit niemand sein Schmunzeln sah. Außer Asmus.
Jung stieß ein Schnauben aus. »Von Kooperation hast du wohl noch nichts gehört?«
Doch, hätte Asmus am liebsten geantwortet. Und noch mehr von Verrat durch eigene Leute.
Bis zum Abend frischte der Sturm weiter auf. Es gab schon seit Jahrhunderten Windmesser, komplizierte und riesige Apparaturen. Eine davon besaßen Asmus’ Brüder in Rostock, die sie neben ihren Schiffsmodellen im Kontor unter Glas aufgestellt hatten, zur Bewunderung durch die Besucher, in Anwendung kam er nicht.
Auf Booten gab es keine Geräte zum Messen der Windstärke. Asmus entschloss sich, zu Ose zu wandern. Ihr Vater besaß eins der wenigen Rundfunkgeräte von Sylt – vielleicht war eine Vorhersage oder eine Warnung durchgegeben worden.
Noch bevor Asmus den Hafen verlassen hatte, hastete Bahnsen auf ihn zu. »Du kannst heute Nacht nicht auf deinem Boot schlafen! Zu gefährlich! Mart und ich haben schon alle Jollen gesichert, aber wer weiß, was sich da trotzdem losreißen wird. Am Ende bekommen wir eine ordentliche Wuling von Bootstrümmern. Hatten wir schon mal. Und jetzt sieht es wieder nach einem ganz bösen Sturm aus.«
»Ja, gut.« Asmus gab ihm insgeheim recht, aber wo sollte er hin?
»Du hast die Wahl. Zu uns ins Haus, in das Fischerboot auf Helling, in das ich gerade den neuen Motor eingebaut habe – riecht ein bisschen nach Öl –, oder in den Warteraum des Fährhauses.«
»Danke«, sagte Asmus ganz gerührt wegen der Fürsorge. »Ich glaube, ich nehme den Warteraum …«
»Weil er gewissermaßen öffentlich ist und dich zu nichts verpflichtet«, ergänzte Bahnsen. »Verstehe ich. Ich sage Mart Bescheid, dass er ihn offen lässt.«
Asmus sicherte die Franziska mit noch mehr Tauwerk und brachte dann seinen Schlafsack ins Fährhaus. Essen würde er noch an Bord – da er dabei wach war, konnte er sich notfalls mit einem Sprung an Land retten.
Dann machte er sich auf den Weg nach Keitum. Trotz der Ebbe überflutete das Wasser schon die Salzwiese des Klentertals. Asmus musste auf den Karrenweg über den Hügel ausweichen, auf dem ihm die Regenschauer ins Gesicht trieben. Gummistiefel und Ölzeug hielten ihn oberflächlich trocken, bis das Wasser begann, ihm am Hals in den Troier und unter den Hosenbund zu kriechen.
Er atmete auf, als er endlich die Gartenpforte zu Oses Elternhaus aufstieß, die wie üblich in den Angeln quietschte.
Ose selbst öffnete die Haustür. »Ja, bitte?«, fragte sie kühl und starrte Asmus wie einen Fremden an.
»Ich bin es, Ose.« Asmus nahm den Südwester ab und schüttelte die Tropfen ab.
»Das sehe ich. Was willst du?«
»Ich dachte, dass ich vielleicht den neuesten Wetterbericht aus eurem Rundfunkgerät abhören dürfte«, stammelte Asmus verwirrt.
»Das kann ich mir denken. Du hast immer nur etwas von mir gewollt, stimmt’s?«
Asmus schluckte und hielt mit einer heftigen Erwiderung zurück. »Ose, ich verstehe nicht, was los ist. Hat sich zwischen uns etwas verändert?«
»Oh ja!«, schrie Ose und schlug ihm die Tür vor der Nase zu.
War sie reizbar aus demselben Grund wie Jung, fragte sich Asmus auf dem Heimweg. Eigentlich nicht. Ose war ein ruhiger, besonnener Mensch. Folgedessen musste er ihr einen Grund für diese Wut gegeben haben. Aber er kam nicht darauf, was es sein konnte. Seiner Ansicht nach war er völlig unschuldig. Ein Missverständnis also?
Durch Nachdenken ließ es sich nicht aufklären. Asmus bereitete sich stattdessen ein karges Abendessen und ließ sich dann missmutig vom Wind ins Fährhaus schieben, wo er sofort in seinen Schlafsack kroch. Wenigstens war das Haus solide gebaut und das Dach dicht.
Am Morgen wurde er durch Mart geweckt, der aber verkündete: »Du brauchst dich nicht zu beeilen, der Fährbetrieb ist für heute eingestellt. Aber da scheint am Dammbau einiges passiert zu sein.«
»Ja?« Asmus setzte sich auf. Das Watt gehörte zu seinem Aufgabenbereich. »Weißt du, was?«
»Nö. Vielleicht sind einige Arbeiter ertrunken, keine Ahnung.«
Asmus fuhr in seine Kleidung, so schnell er konnte. »Fährt die Bahn schon?«
»Nein, warum auch? Aber der Sturm hat abgenommen.«
»Und wie sieht’s hier im Hafen aus?«
»Glimpflich abgelaufen.«
Wenigstens zwei gute Nachrichten! Asmus’ Frage nach der Ostbahn war natürlich überflüssig gewesen, da die Fähre stilllag. Er musste sein Motorrad nehmen.
Die Karrenstrecke war schwierig. Stellenweise war Sand über die festgefahrenen Spuren gespült worden, so dass man ihren Verlauf kaum erkennen konnte, an anderen Stellen standen Pfützen. Der Wind kam stoßweise abwechselnd gegenan und von der Seite, und Asmus gelang es manchmal nur unter Mühe, ein Umkippen zu vermeiden.
Endlich kam Asmus schnaufend in die Wache. »Was weiß man über das Morsum Kliff und die Nössehalbinsel?«, fragte er in die Runde.
»Von deinen Schutzgebieten weiß ich nichts. Aber am Dammbau ist eine Menge zerstört worden«, antwortete Jung mit hörbarer Befriedigung. »Gemeldet wurde uns bisher, dass zwei Schwimmbagger verschwunden sind, außerdem kilometerweise Spülrohrleitungen und tonnenweise aufgespülter Boden.«
»Und Menschen?«
»Keine Ahnung. Aber die meisten wurden noch gestern Abend in der Halle des Turnvereins untergebracht. Ich glaube auch, dass sich die Bauleiter mehr Sorgen um den Damm selbst machen. Die Arbeiter kann man ersetzen.«
»Natürlich«, stimmte Asmus mit feinem Hohn zu. »War schon jemand dort?«
Jung schüttelte den Kopf. »Ich warte auf Sinkwitz’ Anweisungen, aber der hat seinen Dienst noch nicht angetreten.«
»Ja, gut«, entschied Asmus. »Ich fahre auf der Stelle hin.«
»Ohne Einsatzbefehl. Ich vermerke es im Tagesjournal«, verkündete Jung.
»Vermerken Sie, was Sie wollen.« Asmus verließ die Wache.
Nach unendlich mühsamer Fahrt war Asmus an einer Stelle angekommen, wo der Dammbau vermutlich seinen Anfang genommen hatte. So ganz genau konnte er es nicht orten.
Immer noch waren es bestimmt sechs Windstärken. Die Dammreste bis weit hinaus in die See wurden von den Schaumkronen überspült. Kaum etwas von der bisher fertiggestellten Strecke schien übrig geblieben. Nur in Ufernähe schlugen die Wellen gegen stehengebliebene Pfähle, an denen sich Tang und Unrat aufgehängt hatten.
Die Stapel der Bahnschwellen waren auseinandergerissen worden – vereinzelt sah Asmus ihre von grauem Schlick überzogenen Umrisse. Die meisten waren wohl bis in die nahen Weiden getragen worden. Eine kleine Arbeitslok lag auf der Seite, und unzählige Schiebkarren waren auf dem Baugelände verstreut. Die Bauarbeiterhütten existierten nicht mehr, die Hausplanken, Öfchen, Kochtöpfe, Schuhe und andere persönliche Besitztümer staken im Schlick.
Inmitten des Chaos’ wanderten große Raubmöwen umher und suchten nach essbarer Beute. Gruselig, dachte Asmus angesichts eines blutigen Stückes Fisch, um das sich zwei Vögel gierig stritten.
Dann bemerkte er eine Bewegung. Ein Mann näherte sich ihm schnell. »Moin, Herr Wachtmeister. Ich bin Bauleiter Lorenzen.«
»Moin, Herr Lorenzen. Hier sieht es ja furchtbar aus«, stellte Asmus bedrückt fest. »Vermissen Sie Leute?«
»Noch wissen wir es nicht. Aber wir glauben, alle rechtzeitig nach Westerland evakuiert zu haben.«