Asmus blickte über den grauen Schlick, der sich gleichmäßig über alles gelegt hatte, was liegengeblieben war. Überall schauten weiße oder schwarze abgerissene Flügel hervor, Bürzel, Köpfe … »Aber tote Eiderenten, Trauerenten, Austernfischer, Möwen haben Sie zur Genüge …«
»Ja. Immerhin gehören sie nicht zu meiner Verantwortung. Das ist das Beste, was ich darüber sagen kann.«
»Ich verstehe Sie. Und was sagen Sie zum Dammbau?«
»Wir werden von vorne anfangen müssen. Mit einem neuen Plan, mit neuer Bautechnik.«
»So geht es also nicht?«
»Nein, auf keinen Fall. Ein Sturm wie dieser dürfte so ungewöhnlich nicht sein, aber wir sind an ihm gescheitert. Und jetzt gegen den Herbst hin werden wir öfter stärkere Stürme erleben.«
Asmus reichte dem Bauleiter die Hand. »Ihnen persönlich wünsche ich viel Glück.«
Auf dem Rückweg zu seinem Motorrad entdeckte Asmus einen angeschwemmten Schuh, der bemerkenswert wenig mitgenommen war. Überrascht betrachtete er ihn, dann sah er sich um, um den Bauleiter zu entdecken, aber der war fort.
Der Schuh war modisch lang und schmal, dabei spitz, mit sehr flachem Hacken und zweifarbig rotbraun mit ehemals weißem, jetzt schlickfarbenem Oberteil. Auf keinen Fall konnte er im Besitz einer der Arbeiter gewesen sein. Vielleicht kannte ja der Bauleiter diesen auffälligen Modeartikel.
Asmus steckte ihn ein. Möglicherweise ließ sich der Besitzer ermitteln.
Zurück in der Wache, erfuhr er sofort von den allmählich einlaufenden Schadensmeldungen. Sinkwitz stand an der Wand vor einer riesigen Syltkarte und markierte die betroffenen Orte mit Stecknadeln. Matthiesen informierte Asmus. Auf seinem Gesicht breitete sich immer wieder ein Grinsen aus, das nicht zum Ernst der Geschehnisse passte.
»Was ist denn, Lorns?«, fragte Asmus schließlich irritiert.
»Wir haben Böhrnsen«, sagte Matthiesen und drehte das Journal so zu Asmus um, dass dieser die mit dem Finger markierte Zeile lesen konnte.
»Dach von Boy Böhrnsens Haus eingestürzt; unversehrte Bewohner (Mausi Böhrnsen, ein Hausmädchen, ein Knecht) in Nachbarschaft untergebracht. Boy Böhrnsen bei der Flucht aus seinem Haus ergriffen und von Wachtmeister Jep Thamsen in Gewahrsam genommen.«
»Er war tatsächlich in seinem Haus, wie du vermutet hast«, sagte Matthiesen triumphierend.
»Im Lehnsessel«, verbesserte Asmus. »Gut gemacht, Jep!« Er winkte zu ihm hinüber. »Wo sitzt Böhrnsen jetzt ein?«
Matthiesen machte eine Kopfbewegung. »Hinten in der Zelle. Wir haben zwei neue, kräftige Schlösser.«
»Und wo sind die Schlüssel?«
»Hier, neben mir. Vielleicht solltest du sie alle vier an dich nehmen, weil Böhrnsen doch in deiner Verantwortung ist.«
»Was fällt dir ein, hier Aufgaben zu verteilen, Lorns!«, schnauzte Sinkwitz, der mit den Stecknadeln herumhantiert hatte und jetzt herumfuhr, dass die Schachtel herunterfiel und sich entleerte.
»Kein Problem, HWM«, sagte Asmus beschwichtigend. »Am besten ist, Sie nehmen sie mit nach Hause. Nachschlüssel können wohl kaum gemacht worden sein, es sei denn durch einen von uns …«
»Denk an die Brandgefahr«, murmelte Matthiesen. »Wer sollte Böhrnsen bei Gefahr herauslassen?«
»Tja, dann bliebe wohl nur ein außerordentlicher Nachtdienst durch HWM Sinkwitz«, sagte Asmus voll Bedauern. »Morgen schaffen wir dann den Delinquenten zum Schiff nach Hörnum. Wer soll ihn nach Husum zum Richter begleiten, Herr Sinkwitz?«
»Matthiesen!«, blaffte Sinkwitz. Seinen auf dem Steinfußboden knallenden Schritten zu seinem Zimmer zurück war die Wut anzuhören.
Asmus schüttelte warnend den Kopf, als Matthiesen seine schadenfrohe Meinung kundtun wollte. Manche Äußerungen gehörten sich nicht.
Kurz danach kam ein Mann in gestreifter Hose und Lederschuhen in die Wache. Kein Fischer und kein Bauer. Asmus kannte ihn nicht.
»Ich bin Früdde Harksen«, stellte er sich vor.
»Schön, Früdde Harksen. Was führt Sie her?« Matthiesen stand bereits am Tresen.
»Eine Meldung. Gibt es hier einen Schupo, der Asmus heißt?«
»Ja, gewiss. Da ist er.«
Asmus trat bereits neben Matthiesen, als die Frage kaum ausgesprochen war. Früdde Harksen wandte sich an ihn. »Ich bin der Vater von Line aus Hörnum.«
»Ach, wie schön«, sagte Asmus, dem kurz der Atem stockte. Wollte der Mann sich beschweren? »Ist bei Ihnen alles in Ordnung?«
»Ja, ja. Im Dorf ist nichts passiert. Die Mole des Anlegers wurde ein paar Meter eingerissen, das können wir leicht selbst reparieren. Jedoch haben mich die Hörnumer ausgeguckt, um unsere Schäden am Ufer zu melden, und Line sagte, dass ich unbedingt zu Ihnen gehen soll. Weil die Abbrüche am Weststrand zur Natur gehören und in Ihr Fachgebiet fallen.«
Asmus lächelte unwillkürlich. Von Landabbrüchen verstand er natürlich nichts, aber er freute sich, dass sein Geschenk an Line offenbar nicht auf Empörung oder Abwehr ihres Vaters gestoßen war.
»Es sind an der Westseite wieder rund hundert Meter Ufer abgerutscht«, verkündete Harksen düster. »Wenn da nichts gemacht wird, und es geht so weiter, landen unsere Häuser eines Tages in der See.«
»Ja! Vermutlich!«
»Ganz sicher!«
»Früdde Harksen«, sagte Asmus fest. »Ich kenne das Problem. Die Westküste ist insgesamt betroffen. Das Einzige, was ich tun kann, ist, eine dringende Eingabe mit der Bitte um Hilfe im Kieler Ministerium einzureichen. Was die dort damit machen, entzieht sich meiner Kenntnis. Ich verspreche Ihnen aber noch eines: Ich werde einen der Abgeordneten, die derzeit kommen oder sich angekündigt haben, daraufhin ansprechen. Wer mit dem Wattenmeer-Damm Geld verdienen will, muss dafür sorgen, dass Sylt noch existiert, wenn der Damm fertig ist.«
»In Ordnung. Ihnen vertraue ich, weil Line es tut. Manchmal verlässt man sich auf die falschen Polizisten.«
»Kann wohl vorkommen«, bestätigte Asmus.
»Line ist ein kluges Mädchen, finden Sie nicht?«
»Oh, und wie! Vielleicht trägt sie eines Tages zur Rettung von Hörnum bei. Ich würde sie hüten wie einen Edelstein.«
»Habe damit angefangen.« Harksen hob die Hand zum Abschied und ging wortlos.
»Kanntest du Harksen nicht?«, erkundigte sich Asmus leise bei Matthiesen.
Dieser schüttelte den Kopf. »Nie gesehen.«
Dass Harksen seine Tochter mit dem Hinweis auf Sinkwitz und Jung ermahnt hatte, war wohl dem Urvertrauen geschuldet, das die meisten Menschen der Polizei entgegenbrachten. Aber in Zukunft würde er Abstand zu den beiden halten.
Boy Böhrnsens Abfahrt musste auf den nächsten Tag verschoben werden. Er erklärte sich bereit auszusagen, aber nur in Gegenwart von Asmus, der jedoch wieder im Außendienst unterwegs war. Sinkwitz sah sich zu seinem Ärger genötigt, Matthiesen zu beauftragen, Asmus herbeizuschaffen.
Mart im Fährhaus bedauerte, Asmus wäre seit dem frühen Morgen unterwegs. Gegen Mittag traf er ein, ohne zu wissen, dass er gesucht wurde.
Kurze Zeit später wurde Böhrnsen geholt und Asmus gegenüber gesetzt. Matthiesen saß am kurzen Ende des Tisches und führte das Protokoll.
»Sie möchten also aussagen«, begann Asmus. »Die Wahrheit am besten. Sie sehen ja, dass wir Sie immer wieder fassen. Möglicherweise werden Sie vom Richter milder beurteilt, wenn Sie uns helfen.«
»Ja, gut. Ich habe ja zugegeben, dass ich Sinkwitz eine kleine Lehre erteilen wollte, und das will ich jetzt bestätigen.«
»Das hatten Sie noch nicht zugegeben. Herr Böhrnsen, versuchen Sie nicht, mich für dumm zu verkaufen«, mahnte Asmus. »Sie sprachen von Schröder aus Flensburg. Aber erstens wussten Sie nicht, dass Schröder in der Wache war, und zweitens führt Ihr direkter Heimweg von der Tanzhalle nicht an der Wache vorbei.«
»Na ja. Aber ein Mordversuch war es nicht! Ein Unfall.«