»Und wer hat Sie aus der Arrestzelle herausgelassen?«
»Mausi, mein Töchterchen.« Böhrnsen lächelte selig. »Sie ist eine gewitzte Person, nicht?«
»Sie hat doch nicht eigenhändig das Schloss aufgebrochen.«
»Ach so, nein, natürlich nicht. Das war der Schmied von Keitum. Er ist mit ihrem Verlobten, dem Lehrer in Keitum, verwandt und hat Bärenkräfte.«
»Er wusste, dass er gegen das Gesetz verstieß, oder?«
Boy Böhrnsen zog die Schultern hoch. »Keine Ahnung. Und was heißt schon Gesetz? Bei uns ist die Familie das Gesetz.«
»Das dachte ich mir. Und wer hat Sie in Munkmarsch befreit?«
Der Fuhrunternehmer grinste breit. »Das wüssten Sie wohl gerne? Ich auch. Ich weiß es nämlich nicht. Ich hatte eine sauschlechte Nacht und bin irgendwann spät eingedämmert. Und wie ich da im Morgengrauen wach werde und so vor mich hindöse, sehe ich Schloss und Schlüssel am Nagel hängen. Ich bin sofort hoch und zur Tür raus.«
»Und dann? Wer hat Ihnen weitergeholfen?«
»Niemand. Ich habe mir eine Jolle geliehen, bin nach Keitum gerudert und habe mich dort von einem Bauern nach Westerland mitnehmen lassen. Die Decke, unter der ich auf seinem Karren lag, kratzte. Und die Wurzeln, die er auf dem Markt verkaufen wollte, schmeckten ganz gut, aber sie waren sandig. Ein karges Frühstück.«
»Manche Leute haben nicht einmal Wurzeln zum Frühstück.«
»Selber schuld. Man muss schon zusehen, dass man sich tummelt«, erklärte Böhrnsen großspurig, als ob er die Welt gepachtet hätte.
»Mit dieser Einstellung landet man leicht im Gefängnis, Herr Böhrnsen.«
»Wir werden sehen.«
Aber die Zuversicht, die der Fuhrunternehmer an den Tag zu legen versuchte, war nicht mehr ganz so groß. »Soll ich Ihnen noch was sagen, Asmus?«, fragte er und lehnte sich weit über den Tisch vor.
Matthiesen piekte ihm mit dem Bleistift in die Schulter. »Zurück, Boy«, befahl er. »Manchmal wird so etwas als tätlicher Angriff ausgelegt. Und die Strafe entsprechend erhöht.«
»Pff«, schnaubte Böhrnsen und zog sich zurück. »Also, Asmus! Sind Sie interessiert?«
»Wir sind an allem interessiert, was ein Festgenommener uns mitteilen kann.«
»Ich rechne auf Anerkennung, merken Sie sich das! Also, der Jörn Frees aus Keitum ist Ihnen öfter auf den Fersen gewesen. Ich hab’s nur gehört.«
Asmus antwortete nicht. Aber die Gerüchte verdichteten sich.
KAPITEL 18
Als Matthiesen am nächsten Morgen mit Böhrnsen auf die Reise gegangen war, nahm Asmus seinen Außendienst wieder auf. Das Morsum Kliff bedurfte jetzt dringend einer Inspektion hinsichtlich möglicher Schäden.
Ein gutes Stück hinter dem fertiggestellten und unversehrten Morsumer Bahnhof wurde Asmus unterhalb der Munkehoi vom Bauleiter Lorenzen abgefangen.
»Moin, Herr Asmus! Sie sind aber schnell da!«
»Wieso? Haben Sie nach mir gerufen?«
»Vor etwa zehn Minuten habe ich mit der Wache telefoniert. Oberwachtmeister Jung wusste nicht, wohin Sie gefahren sind und wann Sie zu erreichen wären.«
O doch, er wusste es. Asmus hatte Jung sein Fahrtziel benannt, und dieser hatte noch in Asmus’ Gegenwart zum Journal gegriffen. »Was ist passiert?«
»Wir haben einen Toten entdeckt, den wir allerdings nach der bisherigen Übersicht nicht vermissen. Ertrunken. Er liegt jetzt noch im Wasser, wir müssen erst ein Boot organisieren, um ihn zu bergen. Und da das Wasser aufläuft, eilt es. Ich weiß gar nicht, ob wir es heute schaffen.«
»Dann steigen Sie hinten auf, Herr Lorenzen. Sie müssen mir sagen, wie ich fahren soll.«
Nach einer abenteuerlichen Schlitterpartie waren sie so weit wie möglich an die Unglücksstelle herangefahren. Asmus verstand jetzt erst, dass der Ertrunkene weit draußen am Hilfsdamm lag, an dem während der Bauarbeiten die Steinschuten aus Husum angelegt hatten.
Inzwischen war das Wasser nach dem Sturm weiter zurückgegangen, und da auch der Wind sich beruhigt hatte, sah man endlich, dass der Dammsockel in Ufernähe so weit erhalten war, dass man auf ihm zu Fuß bis zum Hilfsdamm gelangen konnte.
»Die zwei Männer da draußen habe ich als Wache abgestellt«, bemerkte Lorenzen. »Kommen Sie, ich versuche, für Sie ein Paar Gummistiefel aufzutreiben.«
Asmus folgte ihm zu einer schnell errichteten Bauhütte, in der sich Schlechtwetterkleidung, Seekarten und Baupläne stapelten. Es fanden sich Gummistiefel, die er gegen seine derben ledernen Arbeitsstiefel austauschen konnte, die zwar für die Kletterei am Kliff, aber nicht für wadentiefes Wasser geeignet waren.
Der Dammkörper war an vielen Stellen ausgekolkt, mancherorts aber lagen noch die Eisenbahnschwellen, und dort kamen sie ganz gut vorwärts. Schwieriger wurde es am Hilfsdamm, der schmaler war, weil er lediglich provisorisch für den Transport der Steine von den Schuten bis zum Wattenmeer-Damm mit der kleinen Arbeitslok und ihren Loren errichtet worden war.
Endlich waren sie draußen an der Unglücksstelle angekommen. Die Arbeiter machten für Asmus Platz, der sich hinknien musste, um die Leiche am Seeboden in Augenschein nehmen zu können. Offensichtlich hatte sie sich an einem stehen gebliebenen Festmacherdalben verfangen.
»Den Leichnam kriegen wir heute nicht mehr raus«, bemerkte Lorenzen. »Selbst wenn wir die Jolle hier hätten, wäre das Wasser schon zu tief. Auf Tauchen sind wir nicht eingerichtet.«
Asmus nickte. Soweit er in den hin und her schwappenden und in der Sonne glitzernden Wellen erkennen konnte, hatte der Ertrunkene eine blaue Arbeitsjacke an. Die Hosenumschläge waren aufgekrempelt, so dass man die nackten Füße sah. »Sie vermissen wirklich keinen Arbeiter?«
»Alle, die wir listenmäßig erfasst haben – wegen des Lohns –, sind davongekommen. Er ist keiner von unseren Arbeitern, das habe ich schon überprüft«, antwortete Lorenzen entschieden. »Ich denke, er gehörte zu der Stammmannschaft auf einer Steinschute, oder die Husumer haben ihn uns als Nachschub geschickt, obwohl wir niemanden angefordert hatten. Husum arbeitet nicht sehr zuverlässig …«
»Von einer Steinschute, das wäre möglich.« Asmus wandte sich um und blickte zu den Arbeitern hoch. »Glaubt einer von Ihnen, ihn zu kennen?«
»So von der Seite, Herr Schupo … Schwierige Kiste. Könnte sein.«
»Glaube, eher nicht«, antwortete der andere. »Aus meinem Trupp jedenfalls nicht. Wir sind alles große, starke Kerle.«
Asmus blinzelte nochmals ins Wasser. Der Tote sah eher schmächtig aus, das stimmte. Er erhob sich und strich sich das Wasser an den Knien aus dem wollenen Hosenstoff. »Ich bin morgen früh wieder hier, Herr Lorenzen. Bis dahin werden Sie das Boot organisiert haben, und ich werde vielleicht wissen, ob jemand aus Husum geschickt wurde.«
Der Bauleiter nickte, mit einem spöttischen Lächeln auf den Lippen.
»Was bezweifeln Sie denn?«, fragte Asmus überrascht.
»Dass man in Husum irgendetwas Schriftliches hat, außer den Lohnlisten natürlich. Aber was unseren Bau betrifft, heißt es dort zu Bewerbern um eine Arbeitsstelle: ›Steig mal auf die Rasmus, könnte sein, dass die heute noch nach Sylt geschleppt wird. Wenn nicht, meldest du dich bei meiner Ablösung.‹ Danach hört und liest man von solch einem Bewerber nichts mehr.«
»Nun ja«, brummelte Asmus, und die Arbeiter grinsten wissend.
Zurück in der Westerländer Wache ließ sich Asmus mit der Außenstelle des »Preußischen Wasserneubauamtes Dammbau Sylt« verbinden. Nein, sie pflegten keine Arbeiter abzustellen, das sei alles Aufgabe des Betriebes, der die Steine an- und weiterverkaufte und auch den Transport nach Sylt organisierte.
Immerhin hatte der Betrieb einen Telefonanschluss.
»Unsere Steinschuten sind alle rechtzeitig und unbeschädigt zurückgekommen. Was denken Sie denn?«, antwortete der Geschäftsführer ungnädig.
»Vermissen Sie jemanden aus dem Personal auf den Schiffen?«