»Warum sollten wir?«
Asmus rollte die Augen, blieb aber höflich. »Wüssten Sie es denn, wenn jemand vermisst wäre? Oder wer weiß dergleichen?«
»Dergleichen kommt bei uns nicht vor. Wenn doch, müsste man es mir melden.«
»Seien Sie so gut, sich zu erkundigen«, bat Asmus und wunderte sich nicht, dass das Telefonat ähnlich weiterging. Ja, sie pflegten durchaus Arbeitssuchende nach Sylt weiterzureichen. Aber ob die eingestellt wurden oder nicht, läge nicht unter der Aufsicht eines Steinlieferanten.
Nein, natürlich nicht, gab Asmus zu. Aber hätten sie denn nicht wenigstens ein Protokoll oder ähnliche Aufzeichnungen über Namen?
Wozu?
Lorenzen hatte Asmus’ vollstes Verständnis, als er aufgab.
Restlos frustriert fuhr Asmus nach Munkmarsch zurück. Es war nahezu windstill, in den blühenden Heckenrosen summten unzählige Insekten. Herrliches Spätsommerwetter. Er beschloss, ein paar Runden zu kraulen, um sich den Ärger aus den Knochen zu schütteln.
Aber auf dem Bug der Franziska saß mit untergeschlagenen Beinen Ose.
Asmus stoppte und starrte sie unschlüssig an. War sie gekommen, um ihn noch mehr zu beschimpfen? Allerdings signalisierte Oses Miene Reue. Jetzt war er restlos verwirrt.
»Ich muss mich bei dir entschuldigen«, sagte Ose leise, als Asmus auf Hörweite heran war. »Tut mir furchtbar leid. Ich bin einer Behauptung aufgesessen, die ich geglaubt habe. Sie war ja völlig falsch.«
»Ja, dann leg schon mal die Sitzpolster auf den Bänken aus, während ich Pfefferminztee aufgieße«, schlug Asmus reserviert vor und stieg an Bord.
Während Ose mit den Deckeln der Backskisten klapperte, setzte er den Wasserkessel auf. Zu allem Ärger ging sein Petroleum zur Neige. Auch das noch!
Als er mit den dampfenden Teebechern ins Cockpit stieg, saß Ose ruhig da und ließ sich mit geschlossenen Augen die milde Abendsonne ins Gesicht scheinen. Beinahe hätte Asmus die Becher vor Sehnsucht nach ihr zerquetscht. Aber er brachte es fertig, ihr gesittet den Becher in die Hand zu drücken und sich ihr gegenüber hinzusetzen.
Ose nahm einen Schluck Tee. »Du hattest mich gebeten, zu Bonde zu gehen, um herauszufinden, warum er so unleidlich war. Habe ich am nächsten Tag gemacht. Er glaubte, du hättest unentwegt den verständnisvollen Polizisten gespielt, um schließlich Jung mit einer Drohung zu ihm zu schicken. Du hättest ihn gezielt betrogen.«
»Nicht möglich!«
»Ja, doch. Er ist so schlecht auf die Polizei zu sprechen – aus Erfahrung –, dass er jederzeit dazu neigt, ihr Böses zu unterstellen. Man kann ihm das nicht übel nehmen.«
»Das würde ich auch nie tun. Leider hat er mich nichts erklären lassen, sondern mich einfach hinausgeworfen.«
»Ja, so kann es einem gehen«, sagte Ose mit gesenktem Kopf. »Noch jemand hat dich nichts erklären lassen. Ich.«
»Das habe ich gemerkt. Warum?«
»Bonde Sibbersen hatte sich zurechtgelegt, dass dein Verständnis für Cord darauf beruht, dass du selber ein Urning bist, dass du aber – wie alle anderen auch – durch konsequente Strenge von deiner eigenen Person abzulenken versuchst.«
Asmus stockte der Atem. »Und das hast du wirklich geglaubt, Ose?«, fragte er, als er wieder reden konnte. »Dass ich mich so charakterlos verhalte?«
Ose zuckte die Schultern. »Es kam mir zunächst logisch vor«, brachte sie gequält heraus. »Nur, je länger ich darüber nachdachte … Nein, ich glaube nicht, dass du zu solchem Betrug fähig bist.«
»Ganz bestimmt nicht«, beteuerte Asmus, immer noch reserviert. »Aber Beweise kann ich nicht vorbringen. Das Problem bleibt wie immer, dass etwas, das nicht geschehen ist, sich nicht beweisen lässt.«
»Du brauchst nichts beweisen«, sagte Ose weich. »Gesteh mir diesen einen Irrtum zu. Einen aus schlechter Erfahrung einerseits und Unkenntnis andererseits. Ich bin einem Mann wie dir noch nicht begegnet.«
Asmus lächelte erleichtert und gab ihr einen Kuss auf die Nasenspitze. »Akzeptiert. Da ist etwas, das ich gerne mit dir besprechen würde.«
»Nur zu!« Ose stellte den Becher auf das Deck und setzte sich erwartungsvoll hin.
Zum Glück war alles wieder in Ordnung. Asmus übersprang zwei Stufen des Niedergangs und kam mit dem aufgelesenen linken Schuh zurück ins Cockpit. Den dünnen Schlickbelag hatte er inzwischen abgewaschen, so dass er wieder fast weiß war. Nur in den Schnürsenkeln befand sich immer noch etwas Sand und Schlick. »Den habe ich draußen am Damm gefunden. Was meinst du dazu?«
Ose drehte den Schuh um und um. »Das ist ja ein hochmodischer Schuh. So etwas kannst du in den Journalen des Kurhauses und der Cafés besichtigen. Den besitzt kein Arbeiter!«
»Das war auch meine Vermutung. Und das Führungspersonal am Dammbau?«
»Asmus, auch die gehören nicht zu der Gesellschaftsschicht, die solche internationale Mode bezahlen kann! Zwanzig Dollar, wenn ich mich recht an ein ähnliches Modell erinnere. In deutschen Mark kannst du die gar nicht kaufen, auch wenn du Tausender oder Millionen bietest! Du musst Dollar besitzen!«
»Ach so.« Das warf ein völlig anderes Bild auf seinen Fund. »Dann kann der Schuh mit dieser Sturmflut eigentlich kaum etwas zu tun haben. Ein Zufallsfund. Aber warum ist der Schuh so neu? Lange kann er nicht im Wasser gelegen haben, also kaum von einem Passagierschiff auf der Nordseeroute stammen. Allenfalls von der Fähre Hamburg-Sylt.«
Ose betrachtete ihn nochmals gründlich. »Diese Art Schuh wird zum normalen Tagesanzug getragen, so viel ich weiß. Der Besitzer hat sich vielleicht Ersatz besorgen müssen.«
Asmus nahm ihn ihr wieder aus der Hand. »Er ist jedenfalls interessant genug, um sich um ihn zu kümmern. Matthiesen kann die Schuster befragen, wenn er wieder zurück und auf Streife ist.«
Matthiesen war noch nicht zurück, dafür aber war Sinkwitz früh in der Wache. »Was ist das denn für ein Toter?«, knurrte er, das Journal vor Augen. »Einer von den Arbeitern am Damm?«
»Nein. Er könnte in einer der Steinschuten verunglückt sein, er liegt neben einem der Dalben, an denen die Schiffe festgemacht hatten. Der Betrieb geht dem jetzt nach, ob sie jemanden vermissen.«
»Wahrscheinlich haben sie wie üblich die Schutzbestimmungen vernachlässigt!«, blaffte Sinkwitz. »Wissen Sie, dass wir jedes Jahr siebentausend Todesfälle in der Industrie haben? Ein Skandal, was die mit uns machen!«
»Nein, das wusste ich nicht. Aber jetzt weiß ich es ja«, antwortete Asmus seinem schlechtgelaunten Chef.
»Also lassen Sie sich von denen keinen Bären aufbinden! Vor allem nicht, dass sie keinen Mitarbeiter vermissen. Geschäftsführer neigen dazu, Tote ihres Betriebes wegzuschummeln.«
»Nein, ich kümmere mich nicht um Bären«, versprach Asmus und machte, dass er nach draußen kam, um zu verhindern, dass die unsägliche Arbeitsanweisung ihre Fortsetzung fand.
Asmus kam gerade an, als die Vorbereitungen zur Bergung der Leiche beendet waren. Ein mit zwei Mann besetztes größeres Boot, das für Arbeiten an Buhnen eingesetzt wurde, beladen mit Tauwerk, Bootshaken und zwei Rettungsringen, war zur Stelle. Er sprang ins Boot.
Bei niedrigem Wasserstand stakten sie hinaus zu den Dalben. Oben auf dem Dammrest hatte sich der Bauleiter eingefunden.
Erstmals konnte Asmus den Toten richtig sehen.
Die Männer sprangen ins Wasser, das ihnen bis zum Bauch ging, packten den Leichnam an Armen und Beinen und versuchten, ihn hochzuheben.
»So schwer kann das Fliegengewicht doch gar nicht sein.« Asmus spähte mit zusammengekniffenen Augen ins Wasser.
»Eigentlich nicht, selbst mit dem Schlamm in den Kleidern. Da scheint ein Widerstand zu sein«, erklärte der eine Mann keuchend.
»Er hat ja ein Tau um den Leib gebunden!«
Der Arbeiter tauchte bis zur Schulter ins Wasser, wo er umhertastete.
»Ist er festgebunden?«, erkundigte sich Asmus.