Выбрать главу

»Nein, aber das Reepende ist unter Steinen festgeklemmt. Einem ganzen Haufen sogar.«

Mit vereinten Kräften konnten sie es herauszerren und danach den Toten in den Prahm hieven.

»Der Kerl ist ins Wasser gekippt und der Steinhaufen hinterher«, mutmaßte der eine. »Da nützt die beste Sicherheitsleine nichts, wenn man das andere Ende nicht am Schiff anbindet.«

Die Schutzbestimmungen waren offenbar sehr lasch, ganz wie Sinkwitz gesagt hatte. Asmus erkannte es widerwillig an. Dennoch empfand er Unbehagen beim Anblick des Toten.

Den Mann kannte er nicht, und ein Rundblick zu den Männern und zum Bauleiter zeigte ihm, dass es ihnen genauso ging. Allerdings war das Gesicht des Toten wohl durch Schnitte der herabgestürzten scharfkantigen Steine und obendrein Verwesung aufgedunsen und entstellt. »Bringen wir ihn an Land«, befahl Asmus knapp und versuchte, sowohl dem Anblick als auch dem Geruch auszuweichen, bis er sich an beides gewöhnt hatte.

An Land wurde der Leichnam aus dem Leichter gehoben und abgedeckt, so dass die Neugierigen, die sich versammelt hatten, ihn nicht begaffen konnten. Bevor Asmus sich aufmachte, um einen Transportkarren zu organisieren, wandte er sich an seine beiden Helfer. »Wäre Ihnen mit je einem geräucherten Aal als Dank gedient? Unsere Polizeistation hat leider kein Geld für außerordentliche Mitarbeiter …«

»Für Aal holen wir Ihnen jederzeit Leichen aus dem Wasser, Herr Kommissar! So viele Sie mögen. Sagen Sie nur Bescheid!«

»Ja, besten Dank«, sagte Asmus schmunzelnd. »Ich hoffe, ich muss nicht auf das Angebot zurückkommen. Aber sehr nett von Ihnen. Die Aale lasse ich vorbeibringen.«

Bis Asmus den Transport organisiert hatte, hatte sich die Versammlung der Neugierigen aufgelöst. Zu zweit hievten sie den Ertrunkenen auf den zweiräderigen Karren, und der Bauer konnte losrattern.

Asmus war erleichtert, als sie nach langer Fahrzeit endlich am Krankenhaus vorfuhren. Nur dort gab es Räume, in denen Tote angemessen aufgebahrt und untersucht werden konnten.

Da die Klinik, wie Matthiesen gesagt hatte, keinen eigenen Pathologen hatte, ließ Asmus Dr. Godbersen, Oses Vater, rufen und erklärte ihm den Fall. Nach kurzer Rücksprache mit dem Klinikleiter übernahm Godbersen die medizinische Verantwortung.

»Wollen Sie sich das wirklich antun, bei der Sektion dabeizubleiben, Herr Asmus?«, erkundigte sich Godbersen vorsorglich, nachdem er das Leichentuch an einer Ecke hochgehoben und daruntergespäht hatte. »Ich kann hier während der Arbeit keine Kotzerei gebrauchen.«

»Seefest bin ich. Ist leichenfest dasselbe?«

»Höchstens verwandt. Dasselbe nicht. Auf See muss ich die Augen zumachen oder den Horizont im Auge behalten, damit mir nicht schlecht wird«, gab Godbersen zu. »Und wehe, da ist kein Horizont.«

»Kauen Sie Ingwerwurzel! Bestimmt kann Ose Ihnen eine besorgen«, sagte Asmus mit Sehnsucht in der Stimme.

Godbersen schien ihn zu verstehen, da er so verschmitzt lächelte. »Bestimmt. Aber zunächst widmen wir uns nicht einer Seereise, sondern einer Wasserleiche.«

»Ja«, sagte Asmus gedämpft und trat einen Schritt zurück, um einem Helfer mit einem Wagen Platz zu machen, auf dem das Waffenarsenal der pathologischen Abteilung kunstvoll angerichtet war.

Noch wurde aber zu Asmus’ Erleichterung weder gehämmert noch geschnitten oder gesägt. Godbersen nahm sich die Hose des Toten vor. »Was sagten Sie, wann der Mann ertrunken ist?«

»Angeblich in der Sturmflut. Vor zwei Tagen.«

»Gucken Sie mal her, Herr Asmus. Sehen Sie diese Algen?«

Kurze grüne Fäden, schon eingetrocknet, wuchsen auf der Hosennaht und lagen nun parallel nebeneinander. »Ja.«

»Algenbewuchs bei einem im Wasser befindlichen Gegenstand tritt frühestens nach zwei Wochen ein. Dieser Tote lag geraume Zeit vor der Sturmflut im Wasser, wofür auch alle anderen Anzeichen sprechen, die ich bisher oberflächlich in Augenschein genommen habe.«

»Als da wären?«

»Das Aufquellen der Haut an Händen und Füßen, wir nennen das Waschhaut. Soweit ich es mit dem Auge beurteilen kann, werde ich sie in toto von Muskeln und Sehnen abstreifen können. Auch die Haare scheinen sich bereits von der Kopfhaut zu lösen. Ich erhöhe auf drei oder vier Wochen. Nach den vielen Regentagen waren das Nordseewasser kalt und die Zerfallsprozesse verlangsamt. Warum hat der Mann eigentlich keine Schuhe an?«

»Ich weiß es nicht. Die Erklärung für seinen Unfall ist, dass er auf der Steinschute gearbeitet hat, aber vergaß, sich bei Wellengang mit einem Tau zu sichern. Vielleicht kam er nachts schlaftrunken an Deck.«

»Oder betrunken?«

Asmus zog schweigend die Schultern nach oben. »Jedenfalls sollen die schweren Granitsteine hinter ihm her von Bord gerollt sein und seine Sicherungsleine in einem Steinberg eingeklemmt haben.«

»Dass er sich nicht absicherte, liegt vielleicht daran, dass er kein Arbeiter war und die Vorsichtsmaßnahmen nicht begriff. Sehen Sie mal her.«

Asmus kam vorsichtig näher und versuchte, so flach wie möglich zu atmen. Dann starrte er auf die Handflächen des Toten, dessen Finger Godbersen gestreckt hatte.

»Dieser Tote hat nie körperlich gearbeitet. Auch die Füße weisen keine Schwielen von Arbeitsstiefeln auf. Wenn er überhaupt auf einer der Steinschuten hergekommen ist, dann als Gast, als Journalist, als Beobachter aus unbekannten Gründen. Oder weil es schlicht billiger war als die Anreise mit Bahn und Fähre.«

»Als verkleideter Journalist womöglich«, ergänzte Asmus. »Man muss auch seine Kleidung bedenken. Die Gewerkschaften stellen nicht selten Untersuchungen über Arbeitsbedingungen an.« Dem Steinbetrieb war andererseits auch zuzutrauen, dass er Passagiere gegen Kleingeld mitnahm. Aber was auch immer er gewesen war, Mitglied der Mannschaft oder Fahrgast: er musste Besitztümer gehabt haben, Wechselwäsche im Seesack, im Koffer oder in einer Reisetasche. Bisher war kein Fund gemeldet worden. In diesen schlechten Zeiten war es allerdings denkbar, dass der Finder es behielt.

Asmus schlug einen Bogen um den Instrumententisch und ging hinter dem Kopf der Leiche in die Knie, um die Haare genauer zu betrachten, die sehr seltsam wirkten. Unregelmäßig abgeschnitten, waren sie mal lang, mal kurz, stellenweise war die Kopfhaut freigelegt. »Eine Frage habe ich noch. Können die Haare einer Wasserleiche einfach abbrechen, Doktor?«

»Sie meinen, weil er gewissermaßen gar keinen Haarschnitt hatte?«

»Ja. Als hätte ein Pferd sie abgerupft.« Asmus kam ein Seepferd in den Sinn, aber das laut zu sagen, gehörte sich aus Respekt nicht.

»Nein, das können sie nicht.«

»Dann hat er sich selber so zugerichtet. Das passt zur Arbeiterkleidung. Als ob er inkognito nach Sylt gekommen wäre«, schloss Asmus nachdenklich. Zwar gingen ihm noch andere Möglichkeiten der Erklärung im Kopf herum, aber die erwähnte er lieber nicht, vor allem nicht diejenige, die ihm im Augenblick am naheliegendsten schien. Er richtete sich wieder auf. »Dann weiß ich vorläufig genug.«

»Sie bekommen einen schriftlichen Bericht von mir, das wird einige Tage dauern. Sollte ich noch etwas Außergewöhnliches entdecken, melde ich es Ihnen sofort«, versprach Godbersen.

»Ganz herzlichen Dank auch, dass Sie die Sektion sofort durchführen konnten.«

»Im Augenblick kein Problem. Auch wir in der Klinik merken, dass weniger Gäste auf der Insel sind. Und mit Mangelernährung und seinen Folgen wie im Binnenland haben wir es glücklicherweise kaum zu tun, mit Skorbut, Tuberkulose und was es sonst noch so gibt.«

Plötzlich fühlte sich Asmus bestätigt, dass er beim Verdacht auf Klau von Möweneiern als Polizist nicht eingeschritten war, ebenso wie er es vermieden hatte, Jägern zu begegnen, deren Gewehrschüsse trotz der Schonzeit zu hören gewesen waren. In Hungerzeiten musste man als Gesetzeshüter Konzessionen machen, denn in erster Linie ging es um die Menschen.

Nachdenklich stieg Asmus aus dem Kellergeschoss wieder nach oben, wo es nur nach Desinfektionsmitteln, aber wenigstens nicht nach Tod roch. Oder war dies bloße Einbildung?