»Moin, Herr Asmus«, hörte er eine junge Stimme hinter sich und drehte sich um.
»Unser Rettungssanitäter«, stellte Asmus überrascht fest. »Moin auch.«
»Schön, mal wieder Polizisten im Haus zu sehen«, bemerkte der junge Mann. »Das hatten wir mehrere Jahre nicht.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Asmus verblüfft.
»Na, ja.« Der Sanitäter wirkte etwas verlegen. »Es beruhigt einfach, wenn Todesfälle wieder korrekt untersucht werden. Fragen Sie mal meine Mutter und Leute in ihrem Alter. Die haben die Schnauze restlos voll von Willkür und politischen Wirren und Inflation. Ihnen gibt es Hoffnung, dass Sie jetzt da sind.«
»Hm«, grummelte Asmus, einige Sekunden weitgehend sprachlos. »Dann richten Sie Ihrer Mutter einen schönen Gruß aus. Ich bin nicht nur da, ich bleibe auch.«
KAPITEL 19
Am nächsten Morgen fand Asmus Zeit, die medizinischen Befunde und seine eigenen Beobachtungen niederzuschreiben, bevor Sinkwitz zum Dienst zu erwarten war.
Danach ließ er sich wieder mit dem Geschäftsführer des Steinbetriebes in Husum verbinden. Seine Fragen nach einem Passagier auf einer der Schuten mussten nun völlig anders lauten.
»Wir vermissen niemanden, Herr Polizist«, meldete der Geschäftsführer gelangweilt. »Ich wäre dankbar, wenn Sie mich nicht ständig bei der Arbeit stören würden.«
»Der Zeitraum für meine Fragen hat sich grundlegend geändert«, sagte Asmus unbeirrt. »Es geht nicht um einen erst nach der Sturmflut vermissten Mann, sondern um die zwei bis sechs Wochen davor.«
»Auch da vermissen wir niemanden«, kam prompt die Antwort.
»Das wissen Sie aus dem Kopf? Keinen Arbeiter, keinen Gast, keinen leitenden Angestellten?«
»Das weiß ich aus dem Kopf. Ich habe es nachgeprüft. Lassen Sie mich jetzt …«
Asmus unterbrach ihn, bevor er womöglich auflegte. »Noch eine Frage zu der Sicherheit an Bord. Schützen Ihre Männer sich routinemäßig mit einem Tau, das mit einem Palstek am Leib festgebunden wird?«
»Mit einem Palstek?«
Zum ersten Mal meinte Asmus Verwunderung und eine Spur Aufmerksamkeit statt Überheblichkeit zu hören. »Genau. Mit einem Palstek, der sich nicht zusammenziehen kann. Ich hoffe, Sie haben schon mal einen gesehen.«
»Na, hören Sie mal! Und nein! Unsere Mannleinen haben natürlich Karabinerhaken: einen mit eingespleißtem Ör zum Sichern am Leib und den zweiten zum Einpicken am Drahtwerk oder an der Reling.«
»Also keine losen Tauenden?«
»Nein! Ich sag’s Ihnen doch. Damit würden wir gegen etliche Vorschriften verstoßen und es mit der Gewerkschaft zu tun bekommen.«
»Das beruhigt mich jetzt«, versetzte Asmus und legte nach einem knappen Dank auf.
Der Tote war offenbar weder ein Arbeiter des Steinbetriebes noch ein legaler Passagier gewesen. Aber auch für einen ohne Wissen der Geschäftsleitung an Bord genommenen Passagier hätte vermutlich eine bordübliche Sicherungsleine zur Verfügung gestanden.
Allmählich schälte sich die Gewissheit heraus, dass der Mann gar nichts mit dem Dammbau zu tun hatte. Allerdings – warum sollte er in dem Fall von den Basaltklötzen unter Wasser gefangen gehalten worden sein? Hatte er die betriebliche Arbeit mit einer gestohlenen Jolle ausspionieren wollen? Immerhin schien eine solche Erklärung noch möglich und würde auch damit übereinstimmen, dass er ohne Schuhe ertrunken war.
Kurz nachdem Asmus zu diesem Schluss gekommen war, traf Sinkwitz ein.
Zu seinem Ärger musste Asmus ihm alles lang und breit erklären. Dazu passte die Gleichgültigkeit nicht, mit der Sinkwitz schließlich bemerkte: »Hauptsache, der Tote hat mit Sylt nichts zu tun. Ich glaube ja nach wie vor, dass der Kerl von der Schute gefallen ist.«
»Nun ja. Ich schlage trotzdem vor, mich an die Polizeipräsidien der anderen Länder zu wenden …«
»Meine Genehmigung habe Sie dazu nicht!«, fuhr ihm Sinkwitz barsch in die Parade. »Wir wollen kein negatives Aufsehen, wo alle Anzeichen darauf deuten, dass es wirtschaftlich wieder aufwärts geht.«
»Aha. Und hinfahren?«
»Auf Ihre eigenen Kosten oder die Ihrer anscheinend immer noch stinkreichen Familie? Meinetwegen.«
Asmus schwieg verdrossen. Großes Interesse, den Fall aufzuklären, legte Sinkwitz nicht an den Tag. Es hatte deshalb auch nicht den geringsten Sinn, ihm Näheres über den Schuh zu berichten. Zweifellos würde er ihn als völlig unwichtig ansehen.
»Gehen Sie am besten wieder Ihrer Routineaufgabe nach«, empfahl Sinkwitz gönnerhaft. »Oder begleiten Sie Matthiesen durch die Stadt.«
Der Dienst vereinnahmte Asmus bis spät in die Abende. Nach Hause, zur Franziska, kam er nur noch zum Schlafen. Für Besuche bei Ose war keine Zeit mehr. Aber wenn er spätabends auf dem Bug einen kleinen Eimer mit Miesmuscheln fand, angereichert mit Austern, Herzmuscheln, Queller, einigen Gartenkräutern und einer Zwiebel, wusste er, wem er sie verdankte.
Sie reichten üblicherweise für drei Tage: Die Miesmuscheln zum Abendessen schmeckten hervorragend, wenn sie in einem Sud aus Zwiebeln, Knoblauch, Mehl und Petersilie gedämpft wurden. Wein, Sahne und Butter, die in der Rostocker Küche seiner Familie zur Veredelung verwendet wurden, waren entbehrlich.
Alternativ konnte er Herzmuscheln zubereiten, jedoch taugten sie aufgrund ihrer geringen Größe eher als Vorspeise und ließen ihn oft hungrig bleiben. Sie mit den Miesmuscheln zu mischen hätte bedeutet, Perlen vor die Säue zu werfen – gewissermaßen –, denn sie besaßen einen eigenen, sehr feinen Geschmack.
Die Austern hielten sich am längsten und sättigten wunderbar. Auch dazu hätte Asmus gern Wein, Butter, Eier oder Speck zur Verfügung gehabt, aber Tinkeltuten, wie man hier die Strandschnecken nannte, und wilder Thymian mit Pfefferkörnern reichten auch, um den Austern den perfekten Geschmack nach Delikatesse zu verleihen.
Als Asmus die letzte Auster mitsamt dem Strandwegerichbett verzehrt hatte, starrte er, ohne etwas zu sehen, in den nächtlichen Himmel, der von den unendlich vielen klar leuchtenden Sternen erhellt wurde. Der Herbst nahte. Es wurde Zeit, sich ein Zimmer zu suchen. Aber von welchem Geld? Die Inflation fraß sein Gehalt auf. Diese persönlichen Sorgen mischten sich allmählich auf ungute Weise in seine dienstlichen Pflichten. Er musste sie unbedingt auseinanderhalten!
Doktor Godbersen erschien ungewöhnlich früh in der Wache, wo Asmus allerdings schon an der Arbeit war.
»Ose hat mir verraten, dass Sie schon hier sein müssten«, erklärte er und warf einen neugierigen Blick in die beiden Räume, deren Türen noch offenstanden, weil der offizielle Dienst noch nicht begonnen hatte. »Können Sie mit nach draußen kommen?«
»Nanu«, sagte Asmus und winkte den Arzt zum Hinterausgang, der in den stillen und uneinsehbaren Hof führte. »Hat sich etwas Neues ergeben?«
»Ja. Das Gesicht Ihres Toten wurde keineswegs von herabfallenden Steinen zerschnitten, sondern von einem Messer. Ein Schnitt neben dem anderen durch ein Messer von skalpellartiger Schärfe. Dies war wegen der aufgequollenen Haut nicht auf Anhieb ersichtlich.«
»Du lieber Gott!«, sagte Asmus erschüttert. »Wissen Sie, ob vor oder nach dem Tod?«
»Vermutlich kurz danach. Das ist das Seltsame.«
»Das gibt es durchaus gelegentlich. Es deutet meistens auf Rache des Täters. Woran starb der Mann?«
»Er erstickte. Aber nicht im Wasser, denn in der Lunge befindet sich kein Wasser. Seine Kehle wurde mit ungeheuren Kräften zusammengedrückt.«
Asmus begann umherzuwandern, um die mickrige Linde herum, die im Innenhof zu wenig Licht erhielt. »Um die Befunde zusammenzufassen: Der Mann, den niemand kennt, wurde ermordet und bei den Dalben im Wasser versenkt, in der Erwartung, dass er nie gefunden wird. Die Dalben wären wahrscheinlich bis zu ihrem Zerfall stehengeblieben, selbst wenn man den Hilfsdamm aus Sicherheitsgründen zurückgebaut hätte. «