»Ja. Ja! Ich werde es in Angriff nehmen!« Als Bauer die Wache gerade verlassen wollte, schoss Sinkwitz schwer atmend und schwitzend zur Tür herein.
»Bitte um Entschuldigung, Herr Abgeordneter! Wurde aufgehalten. Konnte mich nicht loseisen. Ein Blick in die Räumlichkeiten erwünscht oder eine Erklärung zu den Abläufen des täglichen Geschäfts dieser Wache?«
»Nicht nötig. Haben einen sehr interessanten Mitarbeiter, Herr Stinkfuß«, schnarrte Bauer im gleichen Ductus. »Oder wie war doch gleich der Name? Kann so schlecht Namen behalten.«
»Sinkwitz«, knurrte dieser und machte gedemütigt dem Abgeordneten Platz, der erst Asmus, dann ihm die Hand gab.
»Ich wünsche übrigens dringend, dass der Mord aufgeklärt wird. Geschäftsleute kommen nur, wenn ihre Sicherheit gewährleistet ist. Dieser Fall wäre ein gutes Beispiel für die bemerkenswert effektive Polizeiarbeit auf Sylt. Benachrichtigen Sie mich bitte vom Ergebnis.«
Sinkwitz kräuselte sauertöpfisch die Lippen, statt zu antworten, und stapfte unwirsch hinter Bauer her nach draußen, wo der ungeduldige Fahrer des Jagdwagens den Motor aufheulen ließ.
Währenddessen entdeckte Asmus erstaunt, dass die Journale für das Tagesgeschäft ordentlich in Reih und Glied auf einem Regal standen, wo sie sich noch nie befunden hatten. Die Nummerierung war durchgehend, die Hefte fünf und sechs, nach denen Asmus wegen der Anzeige gegen ihn vergeblich gesucht hatte, waren vorhanden.
Kurze Zeit später kehrte Sinkwitz zurück. »Bauer tut’s ja wirklich nicht unter dem nagelneuen Horch Phaeton unseres geschätzten Bürgers Rörd Jacobsen«, schnaubte er, wütend wie eine Hornisse, den Blick fest auf Asmus gerichtet. »Nur für die Strecke vom Hafen hierher und zurück muss der sich den teuersten Wagen von ganz Preußen leihen!«
»Fünfunddreißig PS«, ergänzte Matthiesen in höchster Anerkennung. »Fährt achtzig Stundenkilometer!«
»Auf unseren Sandwegen auch?«, knurrte Sinkwitz und verschwand in sein Zimmer, wo er sich verbarrikadierte, was Asmus und Matthiesen Zeit ließ, die Erkenntnisse des Vormittags zu diskutieren.
»Der meinte dich, nicht den Wagen«, flüsterte Matthiesen.
Asmus zuckte gleichgültig die Schultern.
»Ich glaube, dass der Schuh in keinem Zusammenhang mit unserem Toten steht«, griff Matthiesen ihre vorherige Diskussion wieder auf. »Könnte er nicht auch von einer Besucherin mit Bubikopf, Herrenanzug und Krawatte getragen worden sein? Das passt zum Stil und wäre die letzte Konsequenz dieser männlichen Frauenmode.«
»Auch möglich, ja. Aber lass uns trotzdem noch mal zum Anfang der Geschichte zurückgehen: Man findet einen Toten, der ermordet worden ist und im Zuge der Deichbauarbeiten im Wasser versteckt wurde. Alles deutet wegen der Kleidung auf einen Arbeiter hin, dem widersprechen aber seine zarte Haut und fehlender Sonnenkontakt. Außerdem sind seine Haare übel zugerichtet, und er hat keine Schuhe an. Soweit sind wir uns einig?«
»Sind wir.«
»Sofern der Mann sich selbst verkleidet hat, hätte er sich vermutlich auch derbe Schuhe besorgen können – heutzutage läuft man nicht mehr barfuß auf einem Schiff herum, schon gar nicht, wenn dieses scharfkantige Eisensockel von Kränen aufweist und für den Steintransport ausgerüstet ist. Hat er aber nicht. Daraus könnte man schließen, dass ein anderer ihm die Arbeiterkleidung verpasst hat, aber keinen Ersatz für die feinen Schuhe in kleiner Größe finden konnte. Außerdem musste er möglicherweise die Frisur zerstören, die auf eine bestimmte Gesellschaftsschicht hingewiesen hätte. Etwa das modisch streng nach hinten gekämmte, pomadisierte Haar mit Seitenscheitel, wie ein Städter es trägt.«
»Das war mehr als eine unkenntlich gemachte Frisur.«
»Stimmt. Er schoß über das Ziel hinaus. Das könnte persönlich gemeint sein. Wut, Rache.«
»Aber dann kannte der Mörder sein Opfer!«
»Ja, das pflegt so zu sein.«
»Sie sind also beide Sylter.«
Asmus zögerte. Das war längst seine Vermutung. Aber er hatte vor, sie völlig wasserdicht zu machen, bevor er sie Sinkwitz vorlegte und dieser ihm womöglich einen Strich durch die Rechnung machte. »Vielleicht. Nicht zwingend.« Er stand auf. »Lorns, ich muss noch mal los. Mir rotiert eine Idee im Kopf, die ich erst ausmustern muss, bevor ich weitermachen kann. Sei bitte nicht ärgerlich etwa wegen fehlenden Vertrauens, das ist es nicht. Es geht um etwas Persönliches, das ich nicht preisgeben kann. Du wirst irgendwann auch in den Konflikt zwischen Amtstreue und der vertraulichen Mitteilung eines Zeugen geraten.«
Matthiesen nickte. »Alles klar.«
Die Friedrichstraße war auf ganzer Länge leerer denn je. Sibbersens Schaufenster machten keinen einladenden Eindruck, ebenso wenig wie die der Nachbargeschäfte. Allmählich schien sich auch hier Armut auszubreiten.
Bonde Sibbersens erwartungsvolle Miene wechselte in Abneigung, als Asmus sein Geschäft betrat. »Was wollen Sie denn?«, knurrte er.
»Herr Sibbersen, ich hoffe, dem Verschwinden der Briefe, die Sie erwarten, auf die Spur gekommen zu sein. Die Postsachen der Insel werden vor Abfahrt der Fähre in einem Schuppen aufbewahrt. Jemand besitzt einen Nachschlüssel und kontrolliert offenbar die ausgehende Post regelmäßig. Bei der vom Festland ankommenden ist es weniger einfach, aber auch das passiert.«
»Und was geht mich das an?«, schnaubte Sibbersen. »Ich habe damit nichts zu tun.«
»Doch. Ich habe den Eindruck, dass es ausschließlich um Ihre Briefe geht. Möglicherweise wurden insgesamt auch zwei ganze Postsäcke gestohlen. Aber Sie vermissen mehr als zwei mögliche Briefe, oder?«
»Ja. Ja, in der Tat. Cord antwortete selten auf meine Fragen, und was er erzählte, hatte für mich oft keinen Zusammenhang, weil es an einen Brief anschloss, den ich offensichtlich nicht erhalten hatte. Bei seinem letzten Besuch fanden wir dafür keine Erklärung, außer dass Briefe mit Absender Cord oder Bonde Sibbersen gelegentlich zum Verschwinden gebracht werden. Wir hatten die Westerländer Poststelle in Verdacht. Beschwerden wären sinnlos gewesen, deswegen haben wir geschwiegen.«
»Könnten Sie mir eine Aufstellung machen von erwarteten, aber nicht erhaltenen Antwortbriefen, oder ist das zu viel verlangt?«
»Wissen Sie, ich habe alles notiert, was Cord betrifft«, antwortete Sibbersen weich, um gleich wieder argwöhnisch zu werden. »Dieser Herr Jung …«
»… ist ein notorischer Opportunist, brandehrgeizig noch dazu. Er glaubte, seine Aufstiegschancen verbessern zu können, indem er Sie wegen der Zeitungsanzeige verwarnte. Ich war nicht da, um ihn zurückzuhalten.«
»Ich habe mich da wohl vertan, was Sie betrifft …«
»Ja, voll und ganz, Herr Sibbersen. Haben Sie denn in den letzten Tagen Nachricht aus Frankfurt erhalten?«
»Nein.«
»Vor zwei Tagen wurde ein Postsack aus dem Schuppen gestohlen, der eigentlich mit dem Zug nach Westerland hätte weiterreisen sollen. Der Diebstahl ganzer Säcke ist wohl eine Notmaßnahme des Täters, wenn er befürchtet, beim Durchsehen der Post erwischt zu werden.«
»Ja. Aber warum das alles? Wer gibt sich Mühe, meine Korrespondenz mit meinem Sohn zu stören?«
»Eben. Das ist die Frage. Ich vermute deswegen, dass es vor allem um Geschäfte geht. Um Sylter Geschäfte.«
Die Schultern des Kaufmanns zogen sich zusammen.
»Habe ich recht?«, setzte Asmus nach.
»Könnte sein«, stammelte Bonde Sibbersen. »Ich habe Cord immer das Neueste aus der Geschäftswelt berichtet, damit er auf dem Laufenden bleibt: Wer wo bauen will, also Privathäuser in einsamer Gegend, Hotels in schönster Umgebung. Manchmal nur Gerüchte, häufiger von beantragten Vorhaben. In letzter Zeit weniger …«
»Warum?« Asmus, der meinte, darin eine bestimmte Aussage auszumachen, ließ seine Frage sofort folgen.
»Ja … Einfach so.«
Asmus kaute unschlüssig auf seiner Wange und beobachtete Sibbersen. Der hatte einen Grund, mit dem er nicht herausrücken wollte. Da es keinen Sinn hatte, ihn zwingen zu wollen, wandte sich Asmus etwas anderem zu. Er kam um die vielleicht entscheidende Frage nicht herum. »Herr Sibbersen, welche Schuhgröße hat Ihr Sohn?«