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Erkens Blick wanderte ziellos durch die Regale, während er nach einer Antwort suchte. Asmus folgte seinem Blick, um festzustellen, dass zur Zeit nicht mehr als vier Gepäckstücke aufbewahrt wurden: Ein Symptom für die schlechte Wirtschaftslage. »Zwei, drei Jahre vielleicht.«

Asmus holte tief Luft. Das war seine wichtigste Frage gewesen, bestätigte die Antwort doch, dass Jacobsen der Auftraggeber der Überwachung von Vater und Sohn Sibbersen war. »Und Sie?«

Erken wedelte abwehrend mit der Hand. »Ich habe damit nichts zu tun. Ich befördere nur die Botschaften meines Arbeitgebers. Gehört zu meinen Aufgaben.«

»Wer hat Cord Sibbersen ermordet?« Asmus wollte dringend wissen, wie weit der Concierge in das Verbrechen eingebunden war.

Ein überheblicher Zug legte sich um Gerrit Erkens Mund. »Woher soll ich das wissen? Ich weiß nicht einmal, dass er ermordet wurde. In der Zeitung stand davon nichts.«

»Wie kommt es dann, dass Sie Cords Gepäck hier stehen haben? Die Reisetasche, mit der Cord Sylt verlassen wollte, aber nie verlassen hat?«, fragte Asmus im sanftesten Ton, der ihm möglich war.

Die Reaktion war entsprechend. Obwohl es ein Schuss ins Blaue gewesen war, fuhr Erken herum und starrte auf die weinrote Reisetasche, die jeder Dame hätte gehören können, die auf Eleganz wert legte.

»Sie ist beschlagnahmt«, erklärte Asmus, um Klarheit zu schaffen, und Matthiesen holte sie aus dem Regal. Er zeigte Asmus den Kofferanhänger, der als Besitzer Cord Sibbersen auswies. »Wem sollten Sie das Gepäck übergeben, Herr Erken?«

»Rörd Jacobsen natürlich«, platzte Erken heraus. »Aber der hat Sylt verlassen, und dem Dienstpersonal ist nicht zu trauen.«

»Jacobsen hat sich in Sicherheit gebracht. Ich weiß. Nun haben wir nur noch Sie, Gerrit Erken, als Mittäter oder als Zeugen, wie Sie wollen.«

»Als Zeugen natürlich!«, rief Erken voller Angst aus. »Ich beantworte alles!«

»Das ist lobenswert. Also noch einmal die Frage: Wer hat Ihrer Meinung nach Jörn Frees den Auftrag gegeben, Cord Sibbersen zu ermorden?«

»Jacobsen! Er musste doch Bonde Sibbersen klar machen, dass der endlich sein Maul halten soll. Aber der hat immer weiter wegen der Grundstücke intrigiert. Deswegen sah sich Jacobsen zu harten Bandagen genötigt.«

»Um Urninge ging es gar nicht?«

Der Concierge spuckte symbolisch auf den Boden und winkte ab. »Urninge haben doch nichts mit dem Geschäft zu tun, sie sind nur überflüssiger Pöbel!«

»Wussten Sie, was in den Botschaften stand, die Sie beförderten?«

Erkens Gesichtszüge versteinerten. »Ich glaube, ich brauche einen Anwalt …« Nach Feierabend brachte Asmus Cords Unterlagen zu Ose.

»Ist alles aufgeklärt?«, flüsterte sie hoffnungsvoll.

»Für mich, ja. Rörd Jacobsen, der Mann, der alles steuerte, ist auf der Flucht, er hat Sylt verlassen. Wir lassen in Deutschland nach ihm suchen. Anfangs hatte ich nicht viel Hoffnung. Aber jetzt haben wir die Zeugenaussage von Gerrit Erken. Der wird auspacken, um sich zu retten. Leider bleiben die Schäden auf Sylt einstweilen. Jetzt bist du dran.«

»Ich?«

»Ja. Nach Cords Tod bist du diejenige, auf die wir Sylter uns verlassen, wenn es um Grundstücksmauscheleien in geschützten Gebieten geht. Du kennst die schönsten Ecken.«

Oses Mutter öffnete die Küchentür und steckte den Kopf heraus. »Noch eine Hose zu plätten, Herr Asmus?«

Sie wurde unterbrochen durch die Stimme ihres Mannes, der aus dem Hintergrund rief. »Der Rundfunk meldet gerade, dass Jacobsen in München gefasst wurde.«

»Gut«, kommentierte Asmus. »Und nein, Frau Godbersen. Es geht heute nicht um Hosen, nur noch um Bohnen. Es ist Zeit, ihnen beim Wachsen zuzusehen.«

»Dann gratuliere ich euch beiden ganz herzlich.« Oses Mutter zog sich zurück und schloss leise die Tür.

»Lass uns also gucken gehen«, schlug Ose vor. »Komm, Nis Asmussen, mein Neufriese.«

Niklas antwortete mit einem ausgiebigen Kuss, bevor sie in den schattigen Garten traten, der am nächsten Morgen wieder in strahlender Sonne liegen würde.

ANMERKUNGEN

Aufpallen: Abstützen von Booten an Land mit Pallhölzern

Auskolken: Auswaschen

Avenarius, Ferdinand: Dichter (1856–1923), Gründer des Vereins zum Erhalt der Sylter Landschaft

Back: Tisch

Backskiste: Kastenbank

Bake: Seezeichen

Faszist: frühe Bezeichnung für Faschismus; erst später von Sozialismus und Kommunismus abgegrenzt

Fenderbrett: verhindert das Wegrollen von Fendern an Pfählen

Helling: Platz in der Werft zum Bau eines Schiffes

Kosterboot: stabiles Boot für das gefährliche Skagerrak

Langkieler: Ballastkiel von Bug bis Heck

Nisse: dänischer Kobold, Beschützer von Haus und Vieh

Palstek: sich nicht zusammenziehender Knoten

Queller: Salzwiesenpflanze

Ringeln: Töten von Enten durch Drehen der Halswirbelsäule

Spitzgatter: mit spitzem Achterschiff

Spring legen: Anbindetechnik bei starkem Wind zusätzlich zu Festmachern

Tinkeltuut: Strandschnecke

Tschako: militärische Kopfbedeckung, ab 1919 auch bei der Polizei

Urning: durch Karl Heinrich Ulrichs (Jurist) 1867 eingeführter Begriff für Homosexuelle

Waschbord: Erhöhung der Bordwand über das Deck hinaus

Wattstützen: Hölzer, die das Schiff beim Trockenfallen in senkrechter Position halten

Werbespruch von 1912: »Was der Leuchtturm für die Küste …«

Wuling: ursprünglich unordentliches (nicht aufgeschossenes) Tauwerk, übertragen auch auf Personen und Schiffe für großes Durcheinander

EINE KLEINE GESCHICHTE VON SYLT

»Sild« wurde erstmals im Jahr 1141 urkundlich im »Schenkungsbuch des Klosters Odense« erwähnt, da gehörte es noch zum Festland. Inzwischen gehen als gesichert angesehene Quellen davon aus, dass Sylt seit der »zweiten Marcellusflut« im Jahr 1362 durch den Verlust größerer Marschlandschaften eine Insel geworden ist. Zur Herkunft des Namens gibt es unterschiedliche Theorien. Vermutlich stammt der Name »Silt« aus dem angelsächsischen und bedeutet »Landschwelle«. Es könnte jedoch auch auf das dänische »Sild« zurückgehen, was übersetzt »Hering« heißt. Die heutige Schreibweise hat sich erst Anfang des 19. Jahrhunderts durchgesetzt.

Königin Margrete I. überließ Sylt im August 1386 dem Grafen von Holstein-Rendsburg Gerhard VI., damit fiel die Insel an das Herzogtum Schleswig. Das im Norden gelegene List blieb weiterhin unter dänischer Krone. Nach dem deutsch-dänischen Krieg im Jahr 1866 ging Sylt an die Provinz Schleswig-Holstein. Auch wenn sich nach dem Ersten Weltkrieg bei einer Volksabstimmung im Jahr 1920 immerhin 88% der Insulaner weiterhin für eine deutsche Staatszugehörigkeit entschieden, begegnet man noch heute Spuren des dänischen Ursprungs. Im Sylter Norden, dem so genannten Listland, lebt weiterhin eine dänischsprachige Minderheit, und die Sylter Mundart Sölring weist, im Gegensatz zu den anderen nordfriesischen Dialektgruppen, viele dänische Lehnwörter auf.

Der Heringsfischfang spielte auf Sylt lange Zeit als Wirtschaftsfaktor eine sehr wichtige Rolle, daher wurde der Hering im Jahr 1668 das Wappentier von Sylt. Er führte im 17. und 18. Jahrhundert zusammen mit dem Walfang, der Schifffahrt, der Austernzucht und dem Entenfang zu einem guten Auskommen eines Teils der Inselbevölkerung. Im Gegensatz dazu lebten Bauern und Landarbeiter am Existenzminimum, was die sozialen Lebensumstände der Bevölkerung zunehmend auseinanderklaffen ließ.

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts veränderte sich das Gesicht Sylts. Keitum, einer der ältesten Orte der Insel, verlor an Bedeutung. Zum einen versandete der alte Keitumer Hafen, und der Haupthafen der Insel wurde nach Munkmarsch verlegt. (Munkmarsch bedeutet wohl »Mönchsmarsch«. Es handelte sich also wahrscheinlich um fruchtbares Marschland, das seit dem 12. Jahrhundert einem Kloster gehörte.) Zum anderen führte der einsetzende Tourismus zu einer wirtschaftlichen Neuorientierung der Insulaner. Besonders in der Ober- und Mittelschicht wurden Kuren auf Sylt Mode. Die Kurgäste erreichten Sylt mit Eisenbahn und Postschiff über Tondern oder dem Schnelldampfer von Hamburg und blieben mehrere Wochen lang, um die heilsame Wirkung des Reizklimas zu erfahren. Der Ort Westerland gewann mit zunehmendem Tourismus an Bedeutung. Er wurde 1855 nach dem Vorbild englischer Badeorte zum »Seebad« erklärt und stellte schon bald das ursprünglich größere Wenningstedt in den Schatten. Obwohl dieses nur vier Jahre nach Westerland zum Seebad erklärt wurde, zog es vor allem weniger betuchte Gäste an. Kampen hingegen entwickelte sich zu einer Art Künstlerkolonie. In den 1920er Jahren besuchten Intellektuelle und Künstler in den Sommermonaten die Insel, einer der berühmtesten unter ihnen war Thomas Mann. Er kam 1921 das erste Mal nach Kampen und wohnte bei späteren Aufenthalten, wie auch der Verleger Ernst Rowohlt, im 1923 erbauten »Haus Kliffende«. Das Buchhändlerehepaar Tiedemann hatte es zu einem der angesagten Treffpunkte der Insel für Intellektuelle und Künstler gemacht. Von dieser Gruppierung ging eine fortschrittliche Bewegung aus, in der ein »Leben ohne Bekleidung« propagiert wurde – die Freikörperkultur. In der Folge entstand 1920 auf Sylt der erste Nacktbadestrand.