Jung auch nicht, daher wandte er sich erbost an die beiden Untergebenen. »Ihr sollt doch nicht Friesisch im Dienst sprechen!«, schnauzte er. »Amtliche Sprache ist Deutsch!«
»War doch rein privat, Oberwachtmeister«, verteidigte sich Jep Thamsen träge.
»Innerhalb der Polizeiwache seid ihr nicht privat!«
»Was ist eigentlich bei dem Fall ohne Namen herausgekommen?«, warf Asmus ein, um mit einem neuen Thema der beginnenden Schärfe in der Diskussion entgegenzuwirken, wiewohl er gar nicht wusste, warum Jung sich aufregte.
Jung schwieg verdrossen, und Asmus ahnte, dass der Aufklärungsversuch kein Erfolg gewesen war. Immerhin ließ sich Jep zu einer Antwort herab. »Nichts Besonderes. Der Kerl war ein ausgehungerter Landstreicher mit geklauten Schuhen. Er starb einfach, wie so viele sterben. Keine Gewalteinwirkung. Der Fall ist abgeschlossen.«
»Da muss man dann auch nicht mehr draus machen, als dran ist«, fügte Jung hinzu.
Ungeachtet seiner deutlichen Warnung blieb Asmus beim Thema. »Was meinst du mit geklauten Schuhen, Jep?«
»Eine gerade noch lesbare Metallplakette auf dem einen Schuh wies auf eine dänische Schuhfabrik hin. Vielleicht hat er sie ja auch geschenkt bekommen, jedenfalls waren es keine Landstreicherschuhe.«
»Interessant. Woher weiß man denn, dass er ein Landstreicher war?«
»OWM Jung ist der Meinung«, antwortete Jep lakonisch.
Asmus runzelte die Stirn und forschte in Jeps schmalem Gesicht, dessen Rasur ein wenig schlampig ausgefallen war, ob er seine Antwort zynisch gemeint haben könnte. Aber davon war nichts zu erkennen. »Und ihr habt nicht durch den Pathologen untersuchen lassen, woran er gestorben ist? Und festgestellt, ob jemand vermisst wird? Die Sorgfaltspflicht hätte das erfordert.«
»Es gibt hier keinen Pathologen, Asmus«, warf Matthiesen ein.
»Versuchen Sie bloß nicht, uns zu belehren, Asmus«, knurrte Jung übellaunig. »Wir sind erfahrene Polizisten, und Sie fangen ganz unten an!«
Eine halbe Stunde später sah Asmus HWM Sinkwitz im Hof. Bedächtig schritt er um das neue Fahrzeug herum. Wenig später betrat Sinkwitz den Wachraum, wo er Asmus allein vorfand.
»Bourgeoisie bleibt Bourgeoisie, ganz gleich, unter welchen Umständen wir leben, nicht wahr?«, spottete er. »Das Ausbeutereigentum bleibt immer in den gleichen Händen, und wenn es uns schlecht geht, geht es euch immer noch besser als uns.«
Der starke Akzent verriet Asmus, dass Sinkwitz wütend war. »Von wem sprechen Sie? Ich bin Wachtmeister«, entgegnete Asmus gleichmütig. »Ich hatte ein paar Ersparnisse auf der hohen Kante. Und ich hatte außerdem nicht vor, das Geld zu horten, bis ich dafür nur noch ein Brot bekomme.«
»An der Inflation sind ganz allein Ihre Leute schuld, die Kapitalistenklasse«, rief Sinkwitz erregt. »Von wegen Dolchstoßlegende und Kriegsschuldlüge! Die Linken sind weder schuld, dass Deutschland den Krieg verloren hat, noch ist es eine Lüge, unser Land als allein schuldig am Krieg zu verurteilen!«
»Sie kennen meine Meinung doch gar nicht«, meinte Asmus friedfertig. »Hören Sie also auf, mir willkürlich Vorwürfe zu unterstellen. Was die Kriegsschuld betrifft, so ist allgemein bekannt, dass 1914 alle Staaten bis an die Zähne bewaffnet waren und dem Startschuss nur so entgegengierten. Das Attentat in Sarajewo war für Österreich der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Und Deutschland war bedauerlicherweise Bündnispartner und musste eingreifen. Der Attentäter war übrigens Serbe und gehörte der Schwarzen Hand an, einer Geheimorganisation, die ein Großserbien anstrebte. Wenn Sie also einen Schuldigen am Krieg suchen, dann in Serbien.«
Sinkwitz knirschte mit den Zähnen. Augenscheinlich war ihm nicht bekannt, was Asmus aus seinem Blickwinkel berichtete. Sein Blick glitt von seinem Untergebenen ab. »Ich kenne sehr wohl Ihre Meinung. Wären Sie Sozialist, wären Sie nicht strafversetzt worden! Man hatte wohl die Hoffnung, Sie hier in Preußen umerziehen zu können. Preußen ist wenigstens etwas fortschrittlicher als andere deutsche Länder, wie der Matrosenaufstand in Kiel gezeigt hat.«
»So, so.«
»Ich wünschte, wir hätten die Räterepublik durchsetzen können«, knurrte Sinkwitz. »Es wird Zeit, das Grundeigentum der herrschenden Klasse zu enteignen und Kinderarbeit in ganz Deutschland auszurotten!«
Er sprang vom einen zum anderen Thema. Wo war der Zusammenhang zwischen Motorrad und Kinderarbeit? »Kinderarbeit«, wiederholte Asmus ratlos.
»Jawohl«, blaffte Sinkwitz, der schon auf dem Weg in sein Zimmer war, und drehte sich um. »Wissen Sie nicht, dass im Kaiserreich die Fabrikarbeit von Kindern unter dreizehn Jahren fünfzig Jahre später als in Preußen verboten wurde? Fünfzig Jahre! Aber Missstände gibt es noch überall zuhauf!«
Er verstand es, anderen ein schlechtes Gewissen zu machen. Asmus hatte sich darüber noch nicht viele Gedanken gemacht.
Am nächsten Tag schon erhielt Asmus den Befehl, sich in List an der Nordspitze der Insel nach Schmuggelware umzusehen. Wie das denn vor sich ginge, fragte er.
Auf die Schiffe rudern lassen, die im Königshafen auf Reede lägen, und kontrollieren, lautete die Antwort.
Ein solches Verfahren kannte Asmus nicht. Matthiesen war im Außendienst irgendwo in Westerland, bei ihm konnte er sich keinen Rat holen, und alle anderen würden ihn auflaufen lassen.
Also ratterte er mit seinem Motorrad los, jedoch keineswegs nach List, sondern zuerst nach Munkmarsch. Zum Glück traf er Hans Christian an, der sofort bereit war, ihm Ratschläge zu geben. Offensichtlich war er auch nicht ungehalten über die Unterbrechung seiner Arbeit. Sie setzten sich auf die Bank wie üblich, während um sie herum wie gewohnt die Arbeitsgeräusche der Werft ertönten, wenn auch vielleicht etwas dünner als bisher.
»Jemand krank?«, fragte Asmus und sah sich genauer um. »Oder haben die Männer frei?«
Der Werftbesitzer stieß einen tiefen Seufzer aus. Sein graublondes Haar schien grauer als vor ein paar Tagen. »Ich habe zwei meiner Leute Bescheid geben müssen, dass ich sie nur noch einen Monat beschäftigen kann, und auf den Schrecken für heute frei gegeben. Den beiden Jüngsten. Wenn überhaupt jemand, dann sind sie es, die neue Arbeit finden, außerdem sind sie nicht verheiratet und haben keine Familie zu ernähren. Anders käme ich mit dem Geld nicht mehr rum. Du weißt selbst, wie das ist.«
Ja, Asmus wusste es. In den vierzehn Tagen, die er hier auf Sylt war, hatten sich die Preise für Lebensmittel verdoppelt. Er selber fischte und sammelte Miesmuscheln und Austern, um Geld zu sparen. Dabei sehnte er sich nach Kartoffeln und Eiern, aber die waren unerschwinglich. Zum Glück waren die Nächte hell genug, um ihm zu erlauben, nach Dienstschluss zu der kleinen Muschelbank, die er entdeckt hatte, zu rudern. »Es wird schlimmer.«
»Ja, es wird täglich schlimmer. Und wenn der Dammbau beendet ist, wird es mit der Werft ohnehin zu Ende gehen.«
»Tatsächlich?« Asmus hörte es betroffen.
»Ja. Meine Einnahmen beziehe ich vor allem durch die kleinen Reparaturen an der Fähre. Die großen in Husum, die kleinen bei mir. Diese Fährlinie werden sie sofort schließen. Deutsche Gäste, die in verplombten Waggons ein paar Kilometer durch Dänemark fahren müssen, um nicht durch die Pass- und Zollkontrolle über Gebühr aufgehalten zu werden – lächerlich. Die Badegäste der Zukunft kommen über den Wattenmeer-Damm.«
»Und die Fischer?«
»Vielen werden die Zugänge zu ihren gewohnten Fanggründen versperrt. Sie werden ihre Boote nach Hörnum verlegen oder aufgeben.«
»Für alle, die mit und vom Wasser leben, ist der Damm also fatal.«
»Ja. Warum hast du so früh Dienstschluss?«
»Habe ich gar nicht. Ich soll die Schiffe im Königshafen auf Schmuggelware überprüfen, wollte mir aber erst bei dir Rat holen.«
»Hat Jung dich jetzt losgeschickt?«
»Nein, Sinkwitz.«