»Ich dachte mehr an den Zeitpunkt. Wenn du jetzt bei Flut mit der Kontrolle anfängst, kannst du sicher sein, dass alle Schmuggler, die noch Wasser unter dem Kiel haben, Ankerauf gehen. Die erkennen doch von weitem deinen Tschako. Heute am Nachmittag ist das vollkommener Blödsinn.«
»Ah, so.« Daran hatte Asmus nicht gedacht. Warum aber Sinkwitz nicht? Die Antwort konnte nur sein, dass er ihm einen Misserfolg bescheren wollte. »Eine Falle?«
»Möglicherweise.«
Was könnte wohl noch mehr dahinterstecken? Während Asmus nachdachte, merkte er, dass Hans Christian mit etwas anderem beschäftigt war. Ganz vorsichtig spähte er über den Hafen. Asmus drehte sich um.
»Nein, lass dir nichts anmerken«, warnte der Werftbesitzer. »Beuge dich vor und rede auf mich ein. Stütz dein Gesicht in deine Hand.«
»Warum? Was beschäftigt dich denn?«
»Dort drüben ist dein Vorgesetzter Sinkwitz. Ist gerade mit dem Motorrad eingetroffen.«
»Nanu.«
»Eben. Wenn es dienstlich wäre, hätte er dich bitten können. Stattdessen schickt er dich bei Flut nach List. Das gibt zu denken.«
»Was macht er jetzt?«
»Er betritt die Fahrkartenausgabe. Ganz sicher hat er nicht vor zu verreisen.«
»Nein, er hat morgen Frühdienst.«
»Los, hau ab!«, zischte der Werftbesitzer. »Nimm den Tschako ab und misch dich unter meine Leute.«
Wenige Augenblicke vergingen, in der sich Asmus die Kopfbedeckung unter den Arm klemmte. Dann fühlte er Hans Christians Hand, die ihn wieder auf die Bank herunterdrückte.
»Zu spät. Mart scheint nicht im Dienstzimmer zu sein. Sinkwitz kommt schon wieder heraus.«
»Du willst sagen, dass er mich nicht nur auflaufen lassen, sondern mich aus dem Weg haben wollte. Und jetzt darf er mich nicht sehen.«
Bahnsen kicherte ein helles Altmännerlachen. »Um dich hier gut zurechtzufinden, musst du noch einiges lernen. Aber es geht schnell, wie ich merke.«
»Danke. Ich höre das gelegentlich. So richtig nützt es mir nichts. Ich habe das Gefühl, hier in einer fremden Welt zu sein.«
»Stimmt. Sylt ist anders als die anderen Inseln und erst recht als das Festland. Die Sprache und die Sitten unterscheiden uns von anderen. Manche Friesen sind darauf stolz. Ich fürchte, es könnte uns eines Tages schaden, vor allem, wenn immer mehr Fremde einwandern. Vielleicht verjagen sie uns Friesen dann, eben weil wir anders sind.«
»Meinst du das?« Asmus bekam allmählich hohe Achtung vor seinem neuen Freund und zweifelte nicht an dem, was er sagte.
»Ja. Die Zugewanderten sind in allen Geschäften erfahrener als wir. Plötzlich erlassen Gemeinden neue Bestimmungen, an die wir nie dachten, dann wird eine Musikhalle errichtet, oder es entsteht ein neues Haus oder ein Restaurant auf einem Kliff, in den Dünen oder auf der Heide, wo unsereiner nie bauen würde. Viele Landbesitzer und die meisten Gemeinden högen sich über die dämlichen Fremden, die großzügige Angebote zum Landerwerb abgeben, und halten die Hand auf. Wir Übrigen gucken verblüfft zu. Die Schäden, die mit dem erschlichenen Bauland angerichtet werden, werden erst Jahre später für alle zu sehen sein. Von wegen dumme Fremde! Schlau sind sie, manchmal richtige Gauner. Diese Entwicklung ist nicht gut, gar nicht.«
Dem konnte Asmus aus vollem Herzen zustimmen. Jeder Anwohner hatte gesehen, wie in Mecklenburg aus ärmlichen Stranddörfern Badeorte geworden waren mit Promenaden, Kurhallen und Brücken, die sich weit in die See zogen. Der Berliner Dialekt überwog zuweilen das Platt der Einheimischen. Dazu waren die Fremden häufig frech und setzten sich mit ihrer schnodderigen Sprache gegen die etwas trägen Mecklenburger durch.
»Mart biegt um die Ecke. Dumm. Denn er hat dich natürlich längst gesehen.« Hans Christian schwieg einen Augenblick, bevor er weiter berichtete. »Pech auf der ganzen Linie. Sinkwitz ist schon informiert. Er dreht sich um und späht her, vergewissert sich wohl, dass du es bist.«
»Dann bin ich jetzt sofort wieder im Dienst«, stellte Asmus fest, setzte den Tschako auf und verabschiedete sich mit einer knappen Verbeugung vom Werftbesitzer. Kurze Zeit später saß er schon auf seinem Motorrad und knatterte davon. Zurück zur Dienststelle.
Als kurz nach Asmus auch Sinkwitz eintraf, saß Asmus vor einer Seekarte und einem Tidenkalender, die er studierte. »Ich muss Sie falsch verstanden haben, Hauptwachtmeister«, bemerkte er. »Ich wäre ja bei Hochwasser in List gewesen. Ich habe mich jetzt erst einmal von einem Kenner der Gewässer beraten lassen. Morgen Vormittag wäre die beste Zeit.«
Sinkwitz drückte die Zigarette, die er wie üblich so weit geraucht hatte, dass er sie kaum noch halten konnte, auf dem Aschenbecher neben Asmus aus. »Ja, da haben Sie natürlich recht. Und ich erachte es als selbstverständlich, dass Sie selbst ausrechnen, wann es mit dem Wasser am besten passt. Jeder verantwortet, was er tut.«
»Natürlich, Herr Hauptwachtmeister«, stimmte Asmus höflich zu.
»Bahnsen ist ein erfahrener Mann. Aber er hat seine Grenzen. Friesen kennen nur Sylt. Nehmen Sie nicht alles, was er daherplaudert, für bare Münze.«
»Natürlich nicht, Herr Hauptwachtmeister.«
Als Sinkwitz davongeschlendert war, atmete Asmus durch und ließ sich die Sache nochmals durch den Kopf gehen. Sinkwitz hatte derart selbstverständlich geklungen, dass er ihm gar nichts Konkretes vorwerfen konnte. Höchstens Gedankenlosigkeit. Er selber war unter dem Sturm neuartiger Erfahrungen durch die Kehrtwende der Politik offensichtlich zu misstrauisch geworden.
Im Kaiserreich aufgewachsen, die Schulbildung in einem Herzogtum durchlaufen, einen Krieg erlitten, nach dem die Reparationszahlungen das Land in den Abgrund trieben, die jungen Erfahrungen mit einer Republik, in der sich Deutschnationale und Sozialisten mit Kommunisten Wortgefechte lieferten, Putsche, galoppierende Inflation und persönliche Degradierung – das alles musste jeden verwirren, ihn genau wie andere.
Asmus beschloss, zukünftig geduldiger und nachsichtiger zu sein. Und öfter das Maul zu halten, wenn es mit ihm durchgehen wollte. Er hätte es sich als Leiter einer Dienststelle auch nicht gefallen lassen, von einem neuen Mitarbeiter des untersten Dienstgrades belehrt zu werden.
KAPITEL 4
Der Königshafen am Lister Ellenbogen war eine riesige Bucht nördlich des Ortes List, vor den gefährlichen Winden aus Südwest bis Nord geschützt und darum in früheren Jahrhunderten ein guter Ankerplatz für große Schiffe. Das wusste Matthiesen zu erzählen, während er und Asmus sich einen Überblick über die Örtlichkeiten verschafften. Sie standen an einem Priel, der seinen Anfang im Dorf an einem Gasthof nahm und an der Insel Uthörn in den Königshafen mündete. Dort ankerten gegenwärtig mehrere kleinere Küstenfischer.
»Dies ist der sogenannte Schlechte Hafen«, erklärte Lorns und zeigte auf ein Boot im Priel, das Moos und Grünspan angesetzt hatte und dessen Ankerkette voller vertrockneter Algen hing. »Der alte Zollkutter, außer Dienst gestellt. Hier würden die Schmuggler natürlich nie anlegen.«
»Jahrelang nicht mehr bewegt«, stellte Asmus fest. »Es wird jetzt übrigens Zeit, die Schmuggler hopszunehmen. Welches ist das Ruderboot, das wir nehmen sollen?«
Wieder deutete Lorns auf ein Boot, ziemlich groß, flachbödig und schwarz geteert.
Drei Küstenschiffe lagen auf der Lister Seite im Königshafen so weit unter Land, wie es ging, damit der Transport der Flaschen mit dem Beiboot oder auf Schlickschlitten vom oder zum Ufer nicht so beschwerlich war. Bei höchstem Flutstand schwammen sie auf, beim jetzigen Wasserstand konnten sie nicht fliehen.
Zwischen dem Wasser und dem erhöht liegenden Karrenweg weideten auf dem Grasland Schafe. Hier war alles ruhig, während man auf den Schiffen die heranrudernden Polizisten bereits bemerkt hatte. Hektik brach bei den Besatzungen aus.
Jedoch war sie vollkommen nutzlos, denn die Schiffe lagen auf Schiet.