Auf allen drei Küstenschiffen entdeckten Asmus und Matthiesen schon gestaute Flaschen mit Schnaps, die sie beschlagnahmten. Gegen die Besatzungen konnten sie nichts ausrichten. Angeblich sprach oder verstand keiner der Männer Deutsch, und Asmus bemühte sich vergeblich um ihre Namen. Schließlich gab er auf, Verhaftungen waren ohnehin ausgeschlossen. Vorsorglich gab es an den Rümpfen keine Kennungen.
Sie mussten mehrere Fahrten zwischen den Kuttern und dem Zollhäuschen am Schlechten Hafen machen, bis alle Kisten mit Flaschen gesichert waren.
Nach einigen Stunden Arbeit waren sie fertig. Asmus rüttelte zum Abschluss am Hängeschloss des Zollhäuschens, um sich zu überzeugen, dass es wirklich hielt. »Eines verstehe ich nicht, Lorns«, meinte er. »Was wir gemacht haben, sind keine polizeilichen Aufgaben. Darf man das in Preußen, rechtlich gesehen?«
»Das weiß ich auch nicht. Aber nach den Bestimmungen des Versailler Vertrages wurden doch so viele Militärs und Uniformträger eingespart, wie es irgend ging. Diese Zollstelle entfiel. Es hieß, sie hätte sowieso nie viel Erfolg gehabt. Seitdem machen wir Schupos das vertretungsweise.«
»Aha. Und woher kommt der Schnaps?«
»Keine Ahnung«, sagte Lorns unsicher. »Vielleicht von Holland über Helgoland … Irgendwie nicht unser Bier – gewissermaßen. Wir sprechen darüber nie. Wir haben auch noch nie jemanden erwischt.«
»Was?« Asmus sah seinen Kollegen entgeistert an.
»Nein.«
»Seid ihr etwa immer zur falschen Zeit hier gewesen?«
»Könnte sein«, gab Matthiesen unglücklich zu. »Keiner von uns hat es so mit der Seefahrt. Ich kann dir sagen, wann der Weizen für die Schnapsdestillation eingesät werden muss …«
Asmus grinste. »Wenn es im Land so weitergeht, bin ich wahrscheinlich mehr an der Ernte interessiert. Wer hat denn bisher angeordnet, wann die Überprüfung stattfinden soll?«
»Sinkwitz oder Jung.«
Asmus schüttelte den Kopf. In Rostock war die Zollstelle nach dem Krieg nicht eingespart worden. Aber wäre das der Fall gewesen, hätte sich die Schupo oder gegebenenfalls sogar die Kriminalpolizei verantwortlich um die neue Klientel gekümmert. Hier auf Sylt war das wohl nie der Fall gewesen. »Weißt du was, Lorns. Fahr du direkt zur Dienststelle. Ich überlasse dir, von unserem Erfolg zu berichten. Ich mache einen kleinen Umweg nach Munkmarsch. Will mich für den Ratschlag bei Bahnsen bedanken.«
»Aber das wäre nicht recht«, widersprach Lorns unglücklich. »Es sind deine Lorbeeren, und du sollst sie einheimsen.«
»Ich hatte in meinem Leben schon genug Lorbeeren. Mach dir darüber keine Gedanken«, sagte Asmus fröhlich. »Meine Genugtuung ist, dass wir beide ein gutes Gespann bilden. Das hätte ja ganz anders kommen können.«
»Weiß Gott«, stimmte Lorns aus vollem Herzen zu. »Du und Jung – das wäre ja ein Albtraum.« Er fuhr an, dass der Sand unter dem Hinterreifen spritzte.
In Munkmarsch war nichts wie sonst. Bereits unterhalb des Mühlenhügels konnte Asmus erkennen, dass sich um das große Fischerboot, das auf der Helling aufgepallt war, Leute drängten. Als er heran war, erkannte er, dass ein Mann auf dem harten ölgetränkten Boden neben dem Schiffsrumpf lag.
»Hole jemand um Himmels willen einen Arzt aus Westerland!«, rief Bahnsen. »Du kommst wie gerufen, Niklas. Bitte, fahr du! Ich bekomme am Telefon keine Verbindung mit der Westerländer Klinik!«
»Einen Augenblick! Wer kann ein Motorrad bedienen?« Asmus’ Stimme war scharf und befehlsgewohnt.
Ein junger Mann meldete sich diensteifrig. »Habe diese Dinger ein paar Jahre gewartet.«
»Dann schnell! Am besten zu Dr. Lorenzen«, befahl Bahnsen. »Er muss sich beeilen. Es sieht böse aus! Bring den Doktor gleich mit!«
Der Jüngling warf sich auf das Leichtmotorrad, gab aufheulend Gas und schlitterte davon, während Asmus zu dem Verunglückten trat. Sein Gefühl sagte ihm, dass es besser wäre, hierzubleiben, und auf seinen Instinkt hatte er sich immer verlassen können.
Aus der Nase und einem Ohr des Unglücklichen lief Blut. Er war ohne Bewusstsein. Eine neben ihm kniende Frau in altmodischer, dunkler Haube bemühte sich, es abzuwischen, aber es sickerte immer wieder nach.
»Lass mal, Petrine«, sagte Bahnsen verzweifelt, »das nützt nichts, und die Bewegung richtet wahrscheinlich noch mehr Schaden an. Nur der Arzt kann ihm helfen.«
Wenn überhaupt jemand, dachte Asmus, denn Verletzungen dieser Art waren meistens tödlich. Sie traten ein, wenn der Hinterkopf infolge Gewalteinwirkung zerschmettert worden war. Das konnte ein Stein eines Mörders gewesen sein oder ein steinharter Boden nach einem Aufprall. »Was ist passiert?«, fragte er Bahnsen leise.
»Jochim ist von der Leiter gestürzt, als er an Deck wollte«, antwortete Bahnsen bedrückt. »Wir hatten noch nie einen Unfall in der Werft, ich war so stolz darauf. Ich kontrolliere mögliche Gefahrenstellen immer selbst. Ich kann mir nur vorstellen, dass ihm plötzlich schwindelig wurde …«
Asmus betrachtete das leichenblasse Gesicht des Arbeiters. Sein welliges blondes Haar war dicht, und der Bartwuchs noch spärlich. »Wie alt ist er?«
»Siebzehn.«
Warum sollte einem gesunden jungen Mann schwindlig werden? Selbsttötung? Diese Möglichkeit schwirrte plötzlich durch Asmus’ Kopf. Er beugte sich zum Werftbesitzer hinüber und flüsterte: »Hattest du ihn entlassen?«
»Nein, im Gegenteil«, flüsterte Bahnsen tieftraurig zurück. »Er war mir wie mein Ersatzsohn. Er hatte beste Anlagen. Handwerklich geschickt wie keiner, und er hatte Ideen. Ideen, die Hoffnung auf eine Fortsetzung der Werftarbeiten machten.«
»Bitte geht nach Hause«, äußerte Asmus in die Runde. »Niemand kann hier helfen außer dem Arzt.«
Seine ruhige Autorität und die Uniform wirkten. Die wenigen Leute der Ansiedlung zerstreuten sich, die Werftarbeiter gingen an ihre Arbeit. Nur Petrine blieb, hielt die Hand des Verletzten und sprach ihm leise murmelnd zu.
Asmus wandte sich der Trittleiter zu, die neben dem Schiffsrumpf lag. Eigentlich hatte er erwartet, am oberen Ende bogenförmige Haken vorzufinden, die einfach über das Waschbord gehängt wurden. Damit war eine Leiter an einem auf Land hochgezogenen Boot normalerweise ausreichend befestigt, aber die Konstruktion war hier eine andere.
Dieses hier war eine einfache Haushaltsleiter, deren gerade Enden augenscheinlich mit Zwingen am Waschbord befestigt wurden. Vermutlich mit dem Vorteil, dass sie an der ganzen gebogenen Längsseite des Schiffes aufgestellt werden konnte, auch, wo die Planken sich zum Bug oder Heck zuspitzten. Und war sie erst einmal befestigt, konnte sie keinen Millimeter verrutschen.
Asmus stellte sie am Bug an, kletterte vorsichtig hoch und kroch dann auf allen Vieren dorthin, wo eine Leiter meistens angestellt wurde: etwa in der Mitte des Decks, am tiefsten Punkt.
Auf ihn wartete eine Überraschung. Die Reste der Zwingen hingen noch an ihrem Platz. Sie waren angesägt. Weitere Teile lagen unterhalb des Bootsrumpfes.
Als er wieder auf dem Boden angelangt war, zog er einen der für List bestimmten roten Beschlagnahme-Zettel aus der Tasche und klebte ihn mit Spucke an den Bootsrumpf. Dann sicherte er die Reste der Zwingen.
Nach einer Weile entdeckte Bahnsen die Banderole. »Was bedeutet das denn?«, fragte er entgeistert.
»Dein Bootsbauer ist Opfer eines Anschlags geworden«, erklärte Asmus bedrückt.
»Auf Jochim? Der hat doch keiner Fliege etwas zu Leide getan.«
»Ja, das glaube ich dir.« Asmus wälzte längst eine andere Idee. Was war, wenn Jochim nur das zufällige Opfer war? Und es auch jemand anders hätte sein können?
Hans Christian ergriff hart Asmus’ Oberarm und zwang ihn, ihm ins Gesicht zu sehen. »Was hat das zu bedeuten, Niklas?«
»Ich halte es für Sabotage. Jemand hat die Zwingen an Deck so angesägt, dass der Nächste auf der Leiter herunterstürzen musste. Es ging höchstwahrscheinlich nicht gegen Jochim, es ging gegen dich.«