Mit einer nervösen Kopfbewegung wies er auf die Tür der Kapelle. Fidelma wandte sich um. Tatsächlich wartete der breitschultrige Abt Cathal dort an der Tür. Fidelma stand sofort auf und ging zu ihm hin.
»Suchst du mich, Pater Abt?«
Abt Cathal war ein wohlgebauter, kräftiger Mann in mittlerem Alter mit einer militärischen Haltung, denn in seiner Jugend war er zum Krieger ausgebildet worden. Er stammte aus dieser Gegend und hatte die militärische Laufbahn aufgegeben, sich unter der Leitung des heiligen Cathach in Lios Mhor religiös unterweisen lassen und war zu einem anerkannten und hervorragenden Lehrer und Abt aufgestiegen. Cathal war der Sohn eines großen Kriegsfürsten, aber er hatte seinen ganzen Reichtum unter den Armen seines Stammes aufgeteilt und lebte in der bescheidenen Armut seines Ordens. Sein einfaches und direktes Handeln schuf ihm auch Feinde. Einmal hatte ein Fürst dieser Gegend, Maelochtrid, ihn gefangengesetzt unter der vorgeblichen Beschuldigung, er betreibe Zauberei. Doch nach seiner Freilassung hatte Cathal ihm vergeben. Ein solcher Mensch war er.
Fidelma mochte Cathal, weil er so sanftmütig und frei von jeder Eitelkeit war. Damit stand er in einem erfreulichen Gegensatz zu dem Hochmut im Amt, dem sie so oft begegnete. Cathal war einer der wenigen Kirchenmänner, den sie ohne Zögern als »heilig« bezeichnen würde.
»Ich suche dich tatsächlich, Schwester Fidelma«, antwortete der Abt mit einem raschen, warmen Lächeln. »Hat das Gericht seine Verhandlungen beendet?«
Seine Stimme klang weich, beinahe ausdruckslos, doch Fidelma spürte, daß etwas Außergewöhnliches geschehen sein mußte.
»Wir haben gerade beim letzten Fall das Urteil gesprochen, Pater Abt. Gibt es ein Problem?«
Abt Cathal zögerte.
»Zwei Reiter sind in der Abtei eingetroffen. Einer davon ist ein Ausländer. Sie kommen aus Cashel und suchen dich.«
»Ist meinem Bruder etwas passiert?« fragte Fidelma sofort, denn das war ihr erster Gedanke. War ihrem Bruder Colgü etwas zugestoßen, dem jüngst eingesetzten König von Muman, dem größten der fünf Königreiche in Eireann?
»Nein, nein. Dein Bruder, der König, ist wohlauf«, versicherte ihr der Abt. »Entschuldige meine ungeschickte Ausdrucksweise. Komm mit mir in mein Zimmer, dort wirst du erwartet.«
Neugierig gemacht, eilte Fidelma jetzt so schnell neben der höheren Gestalt des Abts her, wie es ihre Würde gestattete.
Einst ein kleiner verschlafener Winkel, war Lios Mhor, das große Haus, wie es genannt wurde, plötzlich berühmt geworden, als erst vor einer Generation der heilige Cathach von Rathan dorthin gezogen war und ein neues Kloster gegründet hatte. In kurzer Zeit hatte sich Lios Mhor zu einem der führenden Zentren theologischer Ausbildung entwickelt. Wie die meisten großen Abteien in Irland war es ein gemischtes Haus, ein conhospitae, in dem Mönche und Nonnen gemeinsam wohnten, arbeiteten und ihre Kinder im Dienste Christi erzogen.
Während sie die Kreuzgänge des Klosters durchschritten, machten die Studenten, Mönche und Nonnen dem Abt ehrfürchtig Platz und verbeugten sich höflich. Die Studierenden waren junge Männer und Frauen aus vielen Ländern, die zur Ausbildung in die fünf Königreiche kamen. An der Tür zu den Gemächern des Abts blieb Cathal stehen, öffnete sie und ließ Fidelma den Vortritt.
Ein großer älterer Mann von imponierender Erscheinung stand hinter dem Tisch des Abts. Er wandte sich mit einem breiten Lächeln um, als Fidelma eintrat. Trotz seines silbergrauen Haares und seines offenkundigen Alters sah er noch gut aus und wirkte energisch. Er trug eine goldene Amtskette über dem Mantel. Hätte ihn nicht schon sein Äußeres ausgezeichnet, so verriet die Amtskette seinen hohen Rang.
Fidelma erkannte ihn sofort.
»Beccan! Wie schön, dich wiederzusehen.«
Der Oberrichter erwiderte ihr Lächeln. Er trat auf sie zu und ergriff ihre beiden Hände.
»Es freut mich immer, Fidelma, jemanden zu sehen, der Zuneigung ebenso wie berufliche Achtung verdient.«
Seine Worte und seine warme Begrüßung entsprangen nicht dem Protokoll, sondern echtem Gefühl.
Fidelma hörte ein Hüsteln in ihrem Rücken und wandte sich forschend um. Dort stand ein Mönch, die Hände in seine grobgesponnenen braunen Wollge-wänder gewickelt. Seine Tonsur war anders als die des heiligen Johannes, wie sie von den Mönchen der fünf Königreiche von Eireann getragen wurde. Es war eine römische Tonsur. Sein Gesicht war ernst, aber seine dunkelbraunen Augen funkelten vor Vergnügen, als er sich grüßend vor ihr verneigte.
»Bruder Eadulf!« flüsterte Fidelma überrascht. »Ich dachte, du wärst in Cashel und dientest meinem Bruder?«
»Das tat ich auch. Aber es gab wenig zu tun in Cashel, und als ich hörte, daß Beccan dich hier aufsuchen wollte, erbot ich mich, ihn zu begleiten.«
»Mich hier aufsuchen?« Fidelma erinnerte sich plötzlich an die Worte des Abts. »Was ist denn los?«
»Es gibt einige beunruhigende Nachrichten, Schwester«, begann Beccan ernst. Dann zuckte er die Achseln und lächelte entschuldigend. »Verzeih, erst sollte ich dir sagen, daß es deinem Bruder gut geht in seiner
Hauptstadt Cashel. Er sendet dir die herzlichsten Grüße.«
Fidelma machte sich nicht die Mühe, ihm zu erklären, daß Abt Cathal ihr schon mitgeteilt hatte, daß mit ihrem Bruder alles in Ordnung war.
»Was ist dann also die beunruhigende Nachricht?«
Beccan zögerte einen Moment, wie um seine Gedanken zu ordnen.
»Gestern abend kam ein Bote des Stammes von Eber von Araglin nach Cashel.«
Der Name war Fidelma sofort vertraut, sie erinnerte sich sogleich daran, daß er in dem letzten Fall vorkam, in dem sie an diesem Nachmittag das Urteil gesprochen hatte. Eber war der Fürst des Gebiets, aus dem Archü und sein mitleidsloser Vetter gekommen waren, um ihr Gericht anzurufen.
»Sprich weiter«, sagte sie schuldbewußt, denn Bec-can hatte wieder innegehalten, als er merkte, daß ihre Gedanken abschweiften.
»Der Bote berichtete, daß Eber und eine seiner Verwandten ermordet worden seien. Jemand wurde am Tatort gefaßt.«
»Was hat das mit mir zu tun?« fragte Fidelma.
Beccan machte eine entschuldigende Geste.
»Ich bin im Auftrage deines Bruders auf dem Wege nach Ros Ailithir. Es ist eine dringende Angelegenheit, und ich kann mir nicht die Zeit nehmen, nach Araglin zu gehen und eine ordentliche Untersuchung anzustellen. Dein Bruder, der König, legt Wert darauf, daß der Fall sofort untersucht und Recht gesprochen wird. Eber von Araglin war immer ein guter Freund von Cashel, und dein Bruder hält es für angebracht ...«
Den Rest konnte sich Fidelma denken.
»Daß ich nach Araglin gehe«, schloß sie den Satz mit einem Seufzer. »Nun, hier bin ich fertig. Morgen wollte ich zu meinem Bruder nach Cashel. Es spielt wohl keine große Rolle, ob ich dort ein oder zwei Tage später ankomme. Aber ich verstehe nicht so ganz, was es in Araglin noch zu untersuchen gibt, wenn der Schuldige schon gefaßt ist, wie du sagst. Bestehen denn Zweifel an seiner Schuld?«
Beccan schüttelte nachdrücklich den Kopf.
»Nicht, daß ich wüßte«, versicherte er ihr. »Mir wurde berichtet, der Mörder sei mit einem Dolch in der Hand und in blutbefleckter Kleidung gefaßt worden, wie er sich über die Leiche Ebers beugte. Dein Bruder jedoch .«
Fidelma schnitt eine Grimasse.
»Ich weiß. Eber war ein Freund Cashels, und Gerechtigkeit muß fair geübt werden.«
»Es gibt keinen Brehon in Araglin«, warf Abt Ca-thal ein, um die Situation zu erklären. »Es geht mehr darum, für ein ordentliches Gerichtsverfahren zu sorgen.«
»Gibt es Grund zu der Annahme, daß es das nicht geben könnte?«
Abt Cathal breitete die Hände aus, als hielte er die Frage für nicht so eindeutig zu beantworten.