Es war Eadulf, der aussprach, was auch Fidelma dachte.
»Es tut mir nicht leid, diesen Ort zu verlassen. Ich habe das Gefühl, ich muß in gutem, klarem Wasser baden nach allem, was vorgefallen ist.«
Als sie sich dem Kreuzweg näherten, erblickte Fidelma zwei vertraute Gestalten, die zu Fuß auf dem Weg nach Lios Mhor dahinzogen. Der eine Mann war jung, wurde aber von dem älteren an der Hand geführt. An den gebeugten Schultern des letzteren erkannte man sein hohes Alter.
»Gadra!« rief Fidelma und trieb ihr Pferd ein wenig an.
Der Alte blieb stehen und schaute sich um. Sie sahen, wie seine Finger auf die Handfläche Moens klopften; offensichtlich erklärte er ihm, weshalb er anhielt.
»Gesegnet sei deine Reise, Fidelma«, sagte er lächelnd. »Und auch deine Reise sei gesegnet, mein angelsächsischer Bruder.«
Fidelma schwang sich vom Pferd.
»Wir haben uns gefragt, warum wir euch in den letzten Tagen nicht gesehen haben. Ihr hättet euch von uns verabschieden sollen. Wo wollt ihr beide hin?«
»Nach Lios Mhor«, erwiderte der Alte.
»Ins Kloster?« fragte Fidelma erstaunt.
»Ja. Du brauchst nicht so entgeistert dreinzuschauen.« Gadra grinste. »Wäre ein alter Heide wie ich dort nicht willkommen?«
»Im Hause Christi ist jedermann willkommen«, antwortete Fidelma ernst. »Obgleich ich gestehen muß, daß deine Entscheidung, dorthin zu gehen, mich wirklich überrascht.«
»Nun.« Gadra rieb sich die Nase. »Wenn es nach mir ginge, würde ich lieber in den Bergen wohnen bleiben. Aber der Junge braucht mich.«
»Ach«, seufzte Eadulf. »Es ist sehr lobenswert, was du für den Jungen tust. Die Klostermauern schützen ihn besser als die Berge.«
Gadra warf ihm einen belustigten Blick zu.
»Noch wichtiger ist, daß er die Gemeinschaft von Menschen braucht, die sich mit ihm verständigen können. Im heiligen Haus in Lios Mhor gibt es Mönche und Nonnen, die die alte Schrift beherrschen. Ich kann ihnen rasch beibringen, wie sie sie dazu verwenden können. Sobald Moen in der Lage ist, sich mit mehreren Menschen zu verständigen, habe ich meine Pflicht gegenüber Teafa und Tomnat erfüllt. Dann kann ich weiter meinem Schicksal folgen und ihn dem seinen überlassen.«
»Das ist sehr großzügig von dir«, bemerkte Fidelma.
»Großzügig?« Gadra schüttelte den Kopf. »Es ist nicht mehr als meine heilige Pflicht gegenüber dem Verstand Moens. Der Junge hat seinen ausgezeichneten Geruchssinn bewiesen, und wenn er richtig angeleitet wird, kann man diese Fähigkeit nutzen.«
»Zu welchem Zweck?« fragte Eadulf interessiert.
»Es gibt viel zu tun für jemanden, der die verschiedensten Gerüche so gut voneinander unterscheiden kann, vom Mischen von Parfüm bis zum Erkennen von Kräutern oder dem Herstellen von Arzneien.«
»Also werdet ihr beide in Lios Mhor wohnen?«
»Vorerst einmal.«
»Wer weiß, unter dem heiligen Einfluß des Klosters wirst du vielleicht sogar noch Christ?« neckte Fidelma Gadra.
»Das werde ich niemals«, erwiderte Gadra trocken. »Ich habe zuviel von eurer christlichen Liebe und Barmherzigkeit erlebt, als daß ich dazu gehören möchte.«
»Ich bin sicher, wenn du das Wort hörst, wie es von den Brüdern und Schwestern in Lios Mhor gepredigt wird, dann wirst du erkennen, daß dieses Wort die Wahrheit ist«, erklärte Eadulf mit Überzeugung.
»Dein Wort oder Gormans Wort? Wie kannst du so sicher sein, daß dein Wort die Wahrheit für jedermann oder überhaupt die Wahrheit ist?« fragte Gadra.
»Man muß glauben, sonst entzieht sich einem die Wahrheit«, fühlte sich Eadulf herausgefordert zu antworten.
Gadra schüttelte den Kopf und wies zum blauen Himmelszelt.
»Hast du je daran gedacht, mein angelsächsischer Bruder, daß dann, wenn der Augenblick kommt, an dem sich uns die Türen zur anderen Welt öffnen, jeder von uns feststellen könnte, daß die Dinge, über die wir hier so heftig streiten, sich als nichts anderes als ein großes Mißverständnis erweisen könnten?«
»Niemals!« fuhr Eadulf empört auf.
Der alte Einsiedler sah ihn traurig an.
»Dann ist dein Glaube blind, und du hast deinen eigenen freien Willen abgedankt, und das widerspricht der geistigen Ordnung dieser Welt.«
Fidelma legte Eadulf die Hand auf den Arm, als sie merkte, daß er zu einer zornigen Antwort ansetzte.
»Ich verstehe dich, Gadra«, sagte sie, »denn wir stammen von gemeinsamen Ahnen ab. Doch die Sitten ändern sich im Laufe der Zeit. Den Wandel können wir nicht aufhalten, und wir können auch nicht zu unserem Ausgangspunkt zurückkehren. Aber in dir erkenne ich dieselben Tugenden, die wir alle besitzen.«
»Sei gesegnet für dieses Wort, Schwester. Führen nicht alle Wege zu demselben großen Zentrum?«
Es trat Schweigen ein. Dann machte sich Moen bemerkbar.
»Er sagt, es tut ihm leid, daß er sich nicht ordentlich von dir verabschiedet hat, bevor wir auf die Reise gingen, doch er war der Ansicht, er habe dich schon zu sehr beansprucht. Er glaubt, du weißt, was er empfindet. Er verdankt dir das Leben.«
»Er verdankt mir nichts. Ich bin eine Dienerin des Gesetzes.«
»Er sagt, er halte das Gesetz für einen Käfig, der jeden einfängt, der nicht die Macht hat, sich einen Schlüssel zu sichern.«
»Wenn jemand diese Meinung widerlegt, dann ist er es selbst«, erwiderte Eadulf unwillig.
»Es war nicht das Gesetz, sondern die Anwältin, die den Schlüssel besorgte«, übersetzte Gadra.
»Der heilige Timotheus schrieb in der Heiligen Schrift, >daß das Gesetz gut ist, so es jemand recht braucht««, erwiderte Fidelma. »Und ein weiser Grieche, Heraklit, sagte einmal, die Bürger sollten für ihr Gesetz kämpfen, als verteidigten sie ihre Stadtmauer gegen ein fremdes Heer.«
»Darin bleiben wir wohl verschiedener Ansicht. Das Gesetz kann nicht Moral erzwingen. Aber ich danke dir für das, was du getan hast. Lebe wohl, Fidelma von Kildare. Lebe wohl, mein angelsächsischer Bruder. Friede sei mit euch auf eurem Wege.«
Sie sahen dem Alten nach, als er Moen auf dem Waldweg fortführte.
Traurigkeit überkam Fidelma.
»Ich wünschte, ich hätte ihn davon überzeugen können, daß unser Gesetz geheiligt ist, das Ergebnis von Jahrhunderten menschlicher Weisheit und Erfahrung, das uns ebenso beschützt, wie es uns bestraft. Wenn ich das nicht glaubte, könnte ich nicht Anwältin sein.«
Eadulf neigte zustimmend den Kopf.
»Hat nicht mal jemand gesagt, daß es nicht die Gesetze sind, die sich korrumpieren lassen, sondern die, die sie auslegen?«
Fidelma schwang sich wieder in den Sattel.
»Vor vielen Jahren schrieb Aischylos, daß ungerechtes Handeln sich nicht vermittels rechtlicher Kniffe durchsetzen darf. Infolgedessen müssen wir das Gesetz unserem eigenen Urteil unterwerfen. Ich glaube, das hat der Evangelist Matthäus tatsächlich gemeint, als er schrieb: >Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet<.«
Sie lenkten ihre Pferde nordwärts auf den Weg nach Cashel.