»Und du, Scoth? Kanntest du Eber?«
»Ich bin eine Waise und als Dienerin auf Muadnats Hof aufgewachsen. Ich durfte nie den rath des Fürsten aufsuchen, aber ich sah Eber ein paarmal, wenn er zum Jagen oder Feiern zu Muadnat kam. Und vor ein paar Jahren erschien er einmal auf Muadnats Bauernhof, um den Clan zum Kampf gegen die Ui Fidgente aufzurufen. Ich erinnere mich, daß er von ähnlicher Statur war wie Muadnat. Ich habe ihn auch betrunken und beleidigend erlebt.«
»Mein Vater Artgal folgte dem Aufruf und zog in den Krieg gegen die Ui Fidgente und kam nicht wieder«, fügte Archü zornig hinzu.
»Also könnt ihr mir wenig über Eber sagen?«
»Was möchtest du denn wissen?« fragte Archü interessiert.
»Ich würde gern wissen, was für ein Mensch er war. Du sagst, du hast ihn betrunken und beleidigend erlebt. Aber war er dabei auch ein tüchtiger Fürst für sein Volk?«
»Die meisten Leute sprachen gut von ihm«, meinte Archü. »Ich glaube, er war beliebt, doch als ich Pater Gorman um Rat fragte wegen meines gesetzlichen Anspruchs gegen Muadnat, da riet er mir, den Anspruch lieber in Lios Mhor vorzubringen als mich direkt an Eber zu wenden.«
Fidelma fand das einen eigenartigen Rat von einem Priester. Schließlich war der erste Schritt auf jedem Rechtsweg ein Appell an den Stammesfürsten. Selbst der Häuptling eines kleinen Clans hatte das Recht, ein erstes Urteil zu fällen. Ihr fiel ein, daß Beccan erwähnt hatte, in Araglin gebe es keinen Brehon, der das Gesetz auslegen könne, also war Pater Gormans Rat vielleicht doch wohlüberlegt und sagte nichts Nachteiliges über Eber aus.
»Gab Pater Gorman einen Grund dafür an, daß du dich direkt nach Lios Mhor wenden solltest?« fragte sie.
»Nein.«
»Ist es nicht seltsam, daß zwei Menschen in einem Stammesgebiet aufwachsen und den Fürsten des Stammes kaum zu Gesicht bekommen?« erkundigte sich Eadulf.
Archü lachte besänftigend.
»Araglin ist kein so kleines Gebiet. In den Bergen kann man sich leicht verirren. Man kann tatsächlich dort sein ganzes Leben verbringen und niemals dem Nachbarn auf der anderen Seite des Berges begegnen. Mein Hof«, der junge Mann hielt inne und genoß den Satz, »mein Hof liegt, wie ich schon sagte, in einem einsamen Tal, und darin gibt es nur noch einen anderen Hof, den Muadnats.«
Scoth seufzte tief.
»Hoffentlich wird unser Leben jetzt anders. Ich kannte kaum etwas von dem Land außerhalb von Mu-adnats Küche.«
»Warum bist du dann nicht von Muadnat weggelaufen?« fragte Fidelma.
»Das habe ich getan, sobald ich das entsprechende Alter erreicht hatte. Aber wo sollte ich hin? Ich wurde sehr bald auf seinen Hof zurückgebracht.«
Fidelma zog erstaunt die Brauen hoch.
»Wurdest du gewaltsam zurückgebracht? Mit welchem Recht konnte Muadnat dich gewaltsam zurückholen? Du gehörtest doch nicht zu den Unfreien?«
»Unfreie?« unterbrach sie Eadulf. »Sklaven, meinst du? Ich dachte nicht, daß es in den fünf Königreichen Sklaven gäbe.«
»Die gibt es auch nicht«, antwortete Fidelma sofort. »Unfreie sind Personen, die innerhalb des Stammes keine Rechte besitzen.«
»Was sind sie dann sonst als Sklaven?«
»Sie sind keine Sklaven. Zu den Unfreien zählen wir Kriegsgefangene, Geiseln und Feiglinge, die ihren Stamm in der Not im Stich gelassen haben. Zu ihnen gehören auch Gesetzesbrecher, die die ihnen auferlegten Schadensersatzzahlungen oder Geldstrafen nicht aufbringen konnten oder wollten. Sie verlieren ihre Bürgerrechte, werden aber nicht aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Sie werden so gehalten, daß sie zum Wohlergehen des Stammes beitragen. Natürlich dürfen sie keine Waffen tragen oder in ein Amt gewählt werden.«
Eadulf verzog das Gesicht.
»Das klingt mir aber ganz nach Sklaverei.«
Fidelma ließ ihre Verärgerung merken.
»Die >Unfreien< werden in zwei Gruppen eingeteilt. Die eine Gruppe kann Land pachten und es bearbeiten und Steuern zahlen, während die anderen dazu zu unzuverlässig sind oder ständig gegen das Gesetz rebellieren. Jeder von ihnen kann sich aus seiner Lage befreien, indem er arbeitet, bis die Strafen abgegolten sind.«
»Und wenn sie das nicht tun?« erkundigte sich Ea-dulf.
»Dann bleiben sie Unfreie, ohne Bürgerrechte, bis sie sterben.«
»Und ihre Kinder werden dann Sklaven?«
»Sie sind keine Sklaven!« verbesserte ihn Fidelma wieder. »Und das Gesetz lautet: Mit jedem Menschen sterben auch seine Verbindlichkeiten. Ihre Kinder werden wieder vollberechtigte Bürger.«
Sie bemerkte das belustigte Lächeln, das Eadulfs Mund umspielte, und fragte sich, ob er jetzt ihre Taktik anwandte, sie durch Widerspruchsgeist zu provozieren. Mit dieser List hatte sie früher Eadulf oft zu Diskussionen verleitet. Sollte er sich endlich einen feineren Humor angeeignet haben? Sie wollte etwas dazu sagen, als ihr Scoth zuvorkam.
»Ich gehöre nicht zu den >Unfreien<«, entgegnete sie heftig. »Muadnat war mein Vormund und bestimmte über mich, bis ich das Alter der Wahl erreicht hatte. Danach konnte er mich nicht mehr auf seinem Hof halten, aber ich wußte nicht, wohin. Ich ging fort, fand aber nirgends Arbeit, und deshalb mußte ich zurückkehren.«
»Jetzt wird alles anders«, betonte Archü.
»Nun, ich rate euch, nehmt euch vor Muadnat in acht«, meinte Fidelma. »Ich habe den Eindruck, er ist nachtragend.«
»Das weiß ich sehr gut«, stimmte ihr Archü zu. »Ich werde auf der Hut sein, Schwester.«
Der Weg, den sie entlangritten, stieg nun steiler zu den Bergen an, weg von dem behäbigen Fluß und hin zu den mächtigen runden kahlen Gipfeln, die sich aus den sie umgebenden Wäldern erhoben. Das Vorland der Berge war dicht bewaldet, doch dieser Weg wurde schon seit Jahrhunderten benutzt, so daß die Bäume an beiden Seiten zurücktraten und so viel Raum ließen, daß bei trockenem Wetter sogar ein großer Wagen ihn befahren konnte.
Es ging kein Wind, und die Stille wurde nur vom Schnauben der Pferde unterbrochen. Ab und zu hörte man das aufgeregte Kläffen wilder Hunde oder das drohende Heulen eines Wolfs, die gegen das Eindringen Fremder in ihr Gebiet protestierten.
Die Sonne versank schon hinter den Gipfeln im Westen, und lange Schatten breiteten sich schnell aus. Mit Sonnenuntergang wurde es kalt. Fidelma fiel ein, daß am nächsten Tag das Fest zur Erinnerung an den heiligen Conlaed gefeiert würde, eines Metallkünstlers aus Kildare, der die liturgischen Gefäße für das Kloster der heiligen Brigitta gefertigt hatte. Sie mußte daran denken und eine Kerze in seinem Namen anzünden. Das erinnerte sie daran, daß sie sich schon in dem Monat befanden, der als erster Monat der Sommerzeit galt, die mit der Feier des Lughnasa endete, einem der volkstümlichen heidnischen Feste, die der neue Glaube noch nicht hatte abschaffen können. Die Pferde schritten langsam und bedächtig aufwärts, und Eadulf warf besorgte Blicke auf das letzte Sonnenlicht im Westen hinter ihnen.
»Es wird bald dunkel werden«, stellte er überflüssigerweise fest.
»Es ist nicht mehr weit«, beruhigte ihn Archü. »Siehst du die Biegung des Weges nach rechts? Dort verlassen wir den Hauptweg und schlagen den schmalen Pfad ein, der nach oben in die Berge führt, an dem Bach entlang, der dort diesen Weg kreuzt.«
Schweigend bogen sie in den dunklen Eichenwald ein, wo die Pferde nur hintereinander auf dem offensichtlich selten benutzten Pfad gehen konnten. Sie trotteten durch die enge Gasse zwischen stämmigen Eichen und hohen Eiben. Eine weitere Stunde verging. Die Dämmerung fiel rasch ein.
»Bist du sicher, daß wir auf dem richtigen Weg sind?« fragte Eadulf nicht zum ersten Mal. »Ich sehe nichts von einem Gasthaus.«