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Rohan ließ sich auf einer der leeren, frisch bezogenen Ruhestätten nieder, die zwei lange Reihen bildeten. Im Hibernator war die ursprüngliche, tadellose Ordnung erhalten.

Ein paarmal klirrten die Instrumente, die Ärzte flüsterten, schließlich trat Sax von dem Tisch zurück und sagte: „Nichts mehr zu machen.“

„Also tot“, stieß Rohan hervor. Es war weniger eine Frage als eine Schlußfolgerung, die einzig mögliche, die er aus den Worten des Arztes ziehen konnte.

Nygren hatte unterdessen die Klimaanlage eingeschaltet.

Wenig später drang ein warmer Luftstrom in den Raum.

Rohan erhob sich, um hinauszugehen, da sah er, daß Sax an den Tisch zurückkehrte. Der Arzt nahm eine kleine, schwarze Tasche vom Boden auf, öffnete sie, und nun kam jener Apparat zum Vorschein, von dem Rohan schon so oft gehört hatte, der aber bisher in seinem Beisein nie benutzt worden war. Mit ruhigen, fast pedantischen Bewegungen entwirrte Sax die Leitungsstränge, an deren Ende flache Elektroden hingen. Er legte sechs Stück an den Schädel des Toten und befestigte sie mit einem elastischen Band. Dann hockte er nieder und zog drei Paar Kopfhörer aus der Tasche. Er setzte selbst ein Paar auf und drehte, noch immer vornübergebeugt, an den Knöpfen des Apparates, der in einer Hülle stak. Die Augen hatte er geschlossen, sein Gesicht wirkte nun völlig konzentriert. Plötzlich runzelte er die Stirn, beugte sich noch tiefer und hielt den Knopf an und riß sich gleich darauf die Kopfhörer herunter.

„Kollege Nygren…“, sagte er mit sonderbarer Stimme.

Der kleine Doktor nahm ihm die Kopfhörer ab.

„Was ist?“ flüsterte Rohan mit bebenden Lippen.

Der Apparat wurde, zumindest in der Bordsprache, „Gräberabklopfer“ genannt. Bei einem Verstorbenen, bei dem der Tod erst kurz zuvor eingetreten oder der noch nicht verwest war, wie dieser Leichnam infolge der niedrigen Temperatur, konnte man „das Gehirn abhorchen“, oder genauer, den letzten Inhalt des Bewußtseins ermitteln.

Der Apparat sandte elektrische Impulse ins Schädelinnere; sie suchten sich den Weg des geringsten Widerstandes, das heißt, sie liefen an den Nervenfasern entlang, die in der präagonalen Phase eine funktionelle Einheit bildeten.

Die Ergebnisse waren nie sicher, aber es hieß, auf diese Weise sei es mehrmals gelungen, außerordentlich bedeutsame Informationen zu erhalten. In solchen Fällen wie gerade jetzt, da soviel daran lag, zumindest ein wenig das Geheimnis um die Tragödie des „Kondors“ zu lüften, war die Anwendung des „Gräberabklopfers“ dringend geboten.

Rohan hatte schon geahnt, daß der Neurologe überhaupt nicht mit der Wiederbelebung des Mannes gerechnet hatte, und war eigentlich nur gekommen, um zu hören, was ihnen dessen Gehirn entdecken würde. Reglos stand er da und spürte Trockenheit im Mund und ein dumpfes Herzklopfen, als Sax ihm das zweite Kopfhörerpaar reichte. Wäre diese Geste nicht so einfach und natürlich gewesen, er hätte nicht gewagt, die Hörer aufzusetzen. Aber er tat es unter dem ruhigen Blick von Sax' dunklen Augen, der, auf ein Knie gestützt, vor dem Apparat hockte und mit sparsamen Bewegungen den Verstärkerknopf drehte.

Anfangs hörte er nichts, nur das Rauschen des Stroms, und er war im Grunde erleichtert, weil er nichts hören wollte.

Es wäre ihm angenehmer gewesen — obwohl er sich dessen nicht bewußt war —, wenn das Hirn des unbekannten Mannes stumm geblieben wäre. Sax richtete sich auf und rückte ihm die Hörer an den Ohren zurecht. In dem Licht, das auf die weiße Kajütenwand fiel, sah Rohan etwas hindurchschimmern: ein graues, wie von Asche verschleiertes und in unbestimmter Ferne schwebendes Bild. Unwillkürlich preßte er die Lider aufeinander, und da war, was er eben erblickt hatte, fast deutlich zu erkennen. Es sah aus wie ein Gang im Schiffsinnern mit Rohren, die an der Decke entlangführten.

Der Gang war in seiner ganzen Breite von menschlichen Leibern versperrt. Sie schienen sich zu bewegen, aber es war das Bild, das zitterte und hin und her wogte. Die Menschen waren halb nackt, Kleiderreste hingen in Fetzen an ihnen herab, und ihre unnatürlich weiße Haut schien mit dunklen Sprenkeln oder einer Art Ausschlag bedeckt. Vielleicht war es auch nur eine zufällige Begleiterscheinung, denn von solchen schwarzen Pünktchen wimmelte es ebenfalls auf dem Fußboden und an den Wänden. Das ganze Bild schwankte wie eine unscharfe, durch eine starke Schicht fließenden Wassers aufgenommene Fotografie, dehnte sich aus, zog sich wieder zusammen und wogte. Von Entsetzen geschüttelt, riß Rohan die Augen auf. Das Bild verblaßte und verschwand fast ganz, nur ein Schatten war noch in dem hellerleuchteten Raum.

Sax drehte von neuem an dem Apparat, und Rohan vernahm wie aus seinem Innern ein schwaches Flüstern: „… ala… ama… lala… ala… ma… mama…“ Sonst nichts. In dem Kopfhörer mauzte es plötzlich, fiepte und krähte in hohen Tönen, die sich wie ein irrsinniger Schluckauf oder ein wildes, entsetzliches Hohngelächter immerzu wiederholten. Aber das war nur der Verstärkerstrom. Die Heterodinlampe erzeugte einfach zu schwache Schwingungen.

Sax rollte die Leitungsdrähte zusammen und stopfte sie in die Tasche. Nygren nahm ein Laken und warf es über Körper und Gesicht des Toten. Dessen Mund war bisher geschlossen gewesen und hatte sich jetzt leicht geöffnet, wohl unter der Wärmeeinwirkung (im Hibernator war es inzwischen heiß geworden — Rohan zumindest rann der Schweiß über den Rücken), und das Gesicht hatte einen ungeheuer erstaunten Ausdruck angenommen. So verschwand er unter dem weißen Tuch.

„Sagt doch was… Warum sagt ihr denn nichts?“ stieß Rohan hervor.

Sax zog die Riemen an der Apparathülle fest, erhob sich und trat einen Schritt an ihn heran. „Beherrschen Sie sich, Navigator!“

Rohan kniff die Augen zusammen und ballte die Fäuste — doch vergebens. Wie üblich in solchen Augenblicken, erwachte in ihm der Jähzorn, den zu bändigen ihm besonders schwerfiel.

„Verzeihung“, stammelte er. „Aber was bedeutet das nun?“

Sax knöpfte den Skaphander auf, der zu Boden glitt, und von seiner Stattlichkeit war nichts mehr vorhanden. Er war wieder der hagere, gebeugte Mann mit den schmalen Schultern und den feinnervigen Händen.

„Ich weiß nicht mehr als Sie“, antwortete er. „Vielleicht sogar weniger.“

Rohan begriff nichts mehr, aber er klammerte sich an Sax' letzte Worte.

„Wieso? Warum weniger?“

„Weil ich nicht hier war. Ich habe außer diesem Leichnam nichts gesehen. Sie sind doch heute morgen hier gewesen.

Sagt Ihnen dieses Bild nichts?“

„Nein. Die. die haben sich bewegt. Ob sie da noch gelebt haben? Was war das nur an ihnen? Diese Flecke?“

„Sie haben sich nicht bewegt. Das war eine Täuschung. Die Engramme werden wie eine Fotografie festgehalten. Manchmal ist es ein übereinander von mehreren Bildern. In diesem Fall war es das nicht.“

„Aber die Flecke? Sind sie auch eine Täuschung?“

„Ich weiß nicht. Alles ist möglich. Aber ich glaube es nicht.

Was meinen Sie, Nygren?“

Der kleine Arzt hatte sich schon aus seinem Skaphander gepellt.

„Ich weiß nicht“, antwortete er. „Vielleicht war es auch kein Artefakt. An der Decke waren keine, nicht wahr?“

„Solche Flecke? Nein. Nur an den Leichen und auf dem Fußboden. Und ein paar an den Wänden…“

„Wenn das die zweite Projektion gewesen wäre, dann hätten sie wohl das ganze Bild bedeckt“, meinte Nygren.

„Aber das ist nicht sicher. Bei solchen Engrammen hängt =viel vom Zufall ab.“

„Und die Stimme? Dieses… Gestammel?“ forschte Rohan verzweifelt.

„Ein Wort war deutlich zu verstehen: Mama. Haben Sie es gehört?“

„Ja. Aber da war noch etwas. ›Ala… lala‹. Das wiederholte sich unablässig.“