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„Ja, weil ich die ganze Hinterhauptlappenrinde abgesucht habe“, brummte Sax. „Das heißt die ganze Gegend des akustischen Gedächtnisses“, erklärte er Rohan. „Das war das Ungewöhnliche.“

„Diese Wörter?“

„Nein, die nicht. Ein Sterbender kann an alles mögliche denken. Wenn er an seine Mutter gedacht hätte, dann wäre das durchaus normal. Aber sein Hörbereich ist leer. Verstehen Sie?“

„Nein, keine Ahnung. Wieso leer?“

„Meistens ist die Untersuchung der Hinterhauptlappen ergebnislos“, erläuterte Nygren. „Dort sind zu viele Engramme, zu viele gespeicherte Wörter. Das ist so, als wollten Sie hundert Bücher auf einmal lesen. Ein Chaos entsteht. Aber er…“ — er warf einen Blick auf die längliche Gestalt unter dem weißen Laken — „hatte dort gar nichts. Keine Wörter, nur die paar Silben.“

„Ja, stimmt. Ich habe vom sensorischen Sprachzentrum bis zum Sulcus Rolandi alles abgesucht“, sagte Sax. „Deswegen sind die Silben immer wiedergekehrt. Es waren die einzigen phonematischen Strukturen, die erhalten geblieben sind.“

„Und der Rest, die anderen?“

„Sind nicht da.“ Sax hob, als.hätte er die Geduld verloren, den schweren Apparat so heftig vom Boden auf, daß der Ledergriff knirschte. „Sie sind nicht da, und fertig. Fragen Sie mich bitte nicht, was damit geschehen ist. Dieser Mann hat das ganze akustische Gedächtnis verloren.“

„Und das Bild?“

„Das ist etwas anderes. Das hat er gesehen. Er brauchte nicht einmal zu verstehen, was er sah. Ein Fotoapparat versteht auch nichts und hält doch fest, worauf man ihn richtet. Übrigens weiß ich nicht, ob er es verstanden hat oder nicht.“

„Würden Sie mir helfen, Herr Kollege?“ Die beiden Ärzte gingen mit den Apparaten hinaus, die Tür fiel hinter ihnen zu.

Rohan war allein. Da packte ihn eine solche Verzweiflung, daß er an den Tisch trat, das Laken beiseite schleuderte, dem Toten das Hemd aufknöpfte, das bereits aufgetaut und weich geworden war, und aufmerksam die Brust untersuchte.

Er zitterte bei der Berührung, denn sogar die Haut war geschmeidig geworden. Mit dem Auftauen des Gewebes war eine Muskelerschlaffung eingetreten. Der bis dahin unnatürlich angehobene Kopf war kraftlos hinuntergesunken, als schliefe der Mann wirklich. Rohan suchte an dem toten Körper Spuren einer rätselhaften Epidemie, einer Vergiftung oder Insektenstiche, aber er fand nichts. Zwei Finger der linken Hand spreizten sich, so daß eine kleine, leicht geöffnete Wunde zu sehen war, die zu bluten begann. Die roten Tropfen fielen auf den weißen Schaumgummibezug des Tisches. Das war zuviel für Rohan. Ohne auch nur das Tuch wieder über den Toten zu decken, stürzte er aus der Kajüte, stieß die Leute draußen zur Seite und lief dem Hauptausgang zu, als wäre jemand hinter ihm her. An der Schleusenkammer hielt Jarg ihn an, half ihm, den Sauerstoffapparat umzuschnallen und steckte ihm sogar das Mundstück zwischen die Lippen.

„Nichts gefunden, Navigator?“

„Nein, Jarg. Nichts. Nichts!“

Er merkte nicht, mit wem er im Fahrstuhl war. Draußen heulten die Motoren. Der Sturm war stärker geworden, Sandwolken fegten vorbei und prasselten auf die rauhe, unebene Oberfläche des Schiffskörpers, die Rohan ganz und gar vergessen hatte. Er ging ans Heck, reckte sich auf die Zehenspitzen und tastete das dicke Metall ab. Der Panzer fühlte sich an wie Gestein, verwittertes, altes Gestein, mit harten Knötchen übersät. Zwischen den Transportern erblickte er die hohe Gestalt des Ingenieurs Ganong, versuchte aber gar nicht erst, ihn zu fragen, was er über dieses Phänomen dachte. Der Ingenieur wußte ebensoviel wie er selbst, das heißt nichts. Gar nichts.

In dem größten Transporter fuhr er mit einem Dutzend Leuten zurück. Er saß in einer Ecke der Kabine und hörte ihre Stimmen wie von fern. Bootsmann Terner sprach von Vergiftung, wurde aber überschrien.

„Vergiftung? Womit? Alle Filter sind in ausgezeichnetem Zustand, die Wasservorräte unangerührt, die Sauerstoffbehälter voll. Lebensmittel im Überfluß…“

„Habt ihr gesehen, wie der aussah, den wir in der kleinen Navigationskajüte gefunden haben?“ fragte Blank. „Ich habe ihn gekannt.. Doch ich hätte ihn nicht wiedererkannt, wenn er nicht wie immer einen Siegelring getragen hätte.“

Keiner antwortete. In der Basis begab sich Rohan unverzüglich zu Horpach. Der wußte schon Bescheid durch die Fernsehübertragung und die Berichte der Gruppe, die früher zurückgekommen war und einige hundert Fotos mitgebracht hatte. Rohan fühlte sich unwillkürlich erleichtert, daß er dem Kommandanten nicht zu schildern brauchte, was er gesehen hatte.

Der Astrogator musterte ihn aufmerksam und stand vom Tisch auf, wo eine von Fotokopien bedeckte Geländekarte lag. Sie waren allein in der großen Navigationskajüte.

„Nehmen Sie sich zusammen, Rohan“, sagte er. „Ich verstehe, wie Ihnen zumute ist, aber wir brauchen vor allem Vernunft. Und Beherrschung. Wir müssen dieser verrückten Geschichte auf den Grund kommen.“

„Sie verfügten über alle Schutzvorrichtungen: Energoboter, Lasergeräte und Teilchenwerfer. Der große Antimat steht unmittelbar bei dem Raumschiff. Alles, was wir auch haben“, sagte Rohan mit tonloser Stimme. Er ließ sich in einen Sessel fallen. „Entschuldigen Sie.“

Der Astrogator entnahm einem Wandschränkchen eine Flasche Kognak.

„Ein altes Hausmittel, manchmal kann man's gebrauchen.

Trinken Sie, Rohan. Das hat man früher angewandt, auf den Schlachtfeldern… Schweigend schluckte Rohan die scharfe Flüssigkeit hinunter.

„Ich habe die Zähler aller Energieaggregate überprüft“, sagte er in vorwurfsvollem Ton. „Die Besatzung ist keinesfalls angegriffen worden. Sie haben nicht einmal einen Schuß abgefeuert. Sie sind einfach, einfach…“

„Verrückt geworden“, half der Astrogator gelassen nach.

„Wenn wir doch wenigstens das genau wüßten! Aber wie wäre das möglich gewesen?“

„Haben Sie das Bordbuch gesehen?“

„Nein. Gaarb hatte es mitgenommen. Haben Sie es hier?“

„Ja. Nach dem Landedatum gibt es nur vier Eintragungen.

Sie betreffen die Ruinen, die Sie untersucht haben, und… die Fliegen.“

„Was für Fliegen?“

„Das weiß ich nicht. Wörtlich heißt es dort…“

Er nahm das aufgeschlagene Buch vom Tisch.

„›Keinerlei Lebenszeichen an Land. Zusammensetzung der Atmosphäre…‹ Das sind die Analysenergebnisse.

Aber hier, sehen Sie: ›Um 18 Uhr 40 geriet die zweite Raupenpatrouille auf dem Rückweg von den Ruinen in einen örtlichen Sandsturm mit starker Aktivität atmosphärischer Entladungen. Trotz Störungen Funkverbindung hergestellt. Die Patrouille meldet eine erhebliche Menge winziger Fliegen am… ‹“

Der Astrogator legte das Buch beiseite.

„Und weiter! Warum lesen Sie nicht zu Ende?“

„Das ist ja das Ende. Hier bricht die letzte Eintragung ab.“

„Weiter steht da nichts?“

„Den Rest sehen Sie sich am besten selbst an.“

Er schob Rohan das Buch hinüber. Das Blatt war mit unleserlichen Krakeln bedeckt. Mit weit aufgerissenen Augen starrte Rohan das Liniengewirr an.

„Das hier sieht aus wie ein B“, sagte er leise.

„Ja. Und das hier wie ein G. Ein großes G. Als hätte ein kleines Kind es geschrieben. Meinen Sie nicht auch?“

Rohan schwieg, das leere Glas in der Hand, das wegzustellen er vergessen hatte. Er dachte an die Ambitionen, die er noch kurz zuvor gehabt hatte, an seinen Traum, selbst Kommandant des „Unbesiegbaren“ zu sein. Nun war er dankbar, daß er nicht über das weitere Schicksal der Expedition zu entscheiden hatte.

„Bitte, rufen Sie die Leiter der Spezialistengruppen zusammen.

Rohan, wachen Sie auf!“

„Verzeihen Sie. Eine Beratung, Astrogator?“

„Ja. Alle sollen in die Bibliothek kommen.“