Der Fahrstuhl war nicht da. Er drückte auf den Knopf, und während er in dem Halbdunkel wartete, das nur die hüpfenden Lichter des Indikators erhellten, horchte er, die dumpfe Last durchwachter Nächte und angespannter Tage im Schädel, mit hämmernden Schläfen in die nächtliche Stille hinein, die über dem Raumschiff lag. Manchmal blubberte es in unsichtbaren Leitungen, aus den unteren Stockwerken drang das gedämpfte Murmeln der leerlaufenden Triebwerke herauf, die dauernd startbereit waren. Ein trockener, metallisch riechender Lufthauch wehte aus den vertikalen Schächten neben der Plattform, auf der er stand.
Die Tür schob sich zur Seite, er betrat den Fahrstuhl. Im achten Stock stieg er aus. Hier bog der Korridor ab und führte am Hauptpanzer entlang, von einer Kette blauer Lämpchen beleuchtet. Er ging, ohne zu wissen, wohin. Unwillkürlich hob er die Füße an den richtigen Stellen, um über die hohen Schwellen der hermetischen Trennwände zu steigen, bis er die Schatten des Bedienungspersonals am Hauptreaktor erblickte. Der Raum war dunkel, nur ein paar Dutzend Zeiger blinkten an den Tafeln. Darunter, in den vorgezogenen Sesseln, saßen die Männer.
„Die leben nicht mehr“, sagte einer. Rohan konnte nicht erkennen, wer es war.
„Wetten? Im Umkreis von fünf Meilen waren tausend Röntgen. Die leben nicht mehr, darauf kannst du dich verlassen.“
„Wozu sitzen wir dann noch hier herum?“ brummte ein zweiter. Nicht die Stimme, sondern der Platz, den er einnahm — er saß an der gravimetrischen Kontrollapparatur — verriet Rohan, daß es Bootsmann Blank war.
„Weil der Alte nicht umkehren will.“
„Und du, würdest du's tun?“
„Was bleibt uns übrig?“
In dem Raum war es warm, und in der Luft lag der eigenartige, künstliche Fichtennadelduft, durch den die Klimaanlagen den Geruch zu mildern suchten, den die bei der Arbeit des Reaktors erhitzten Plastteile und Bleche des Gehäuses ausströmten. Am Ende entstand daraus ein Gemisch, das nur hier im achten Stock zu finden war.
Rohan hatte sich, für die Männer in den Sesseln unsichtbar, mit dem Rücken gegen die Schaumgummiverkleidung derTrennwand gelehnt. Nicht daß er sich absichtlich verbarg, er wollte einfach nicht an diesem Gespräch teilnehmen.
„Gleich hat er uns erreicht“, fuhr ein anderer nach kurzem Schweigen fort. Der Mann beugte sich vor, und augenblickslang war sein Gesicht zu sehen, halb rosa, halb gelb vom Schein der Kontrollämpchen, mit denen die Reaktorwand die davor hockenden Männer anzustarren schien. Wie alle, erfaßte Rohan sofort, von wem die Rede war.
„Wir haben das Feld und das Radargerät“, knurrte der Bootsmann unwillig.
„Das Feld nützt gerade was, wenn er auf ein Billierg Beschuß herankommt!“
„Der Radar läßt ihn nicht ran.“
„Wem sagst du das? Ich kenne ihn doch wie meine Westentasche.“
„Na und?“
„Er hat immerhin einen Antiradar. Störsysteme…“
„Aber er ist doch völlig durcheinander, ein elektronischer Geistesgestörter.“
„Ein schöner Geistesgestörter. Warst du in der Steuerzentrale?“
„Nein, hier.“
„Aber ich. Schade, daß du nicht gesehen hast, wie er unsere Sonden zertrümmert hat.“
„Soll das vielleicht heißen, daß sie ihn umprogrammiert haben, daß er bereits unter ihrer Kontrolle steht?“
Alle sagen „sie“, dachte Rohan, als wären es wirklich vernunftbegabte Lebewesen.
„Wer weiß. Angeblich ist nur die Verbindung gestört.“
„Warum sollte er also auf uns feuern?“
Wieder trat Stille ein.
„Steht denn nicht fest, wo er ist?“ fragte der Mann, der nicht in der Steuerzentrale gewesen war.
„Nein. Die letzte Meldung ist um elf eingetroffen. Kralik hat es mir gesagt. Sie haben ihn gesehen, als er sich durch die Wüste trollte.“
„Weit von hier?“
„Dir geht wohl die Düse? Neunzig Meilen. Für ihn ist das eine knappe Stunde. Oder weniger.“
„Jetzt habt ihr aber genug leeres Stroh gedroschen!“ fuhr Bootsmann Blank, dessen scharfes Profil sich von dem bunten Flackern der Lämpchen abhob, ärgerlich dazwischen.
Die Männer verstummten, Rohan drehte sich langsam um und entfernte sich ebenso leise, wie er gekommen war.
Sein Weg führte ihn an beiden Laboratorien vorbei; im großen waren die Lampen gelöscht, im kleinen brannte Licht. Er sah den Schein der Deckenleuchten auf den Gang fallen. Rohan warf einen Blick hinein. An dem runden Tisch, saßen nur Kybernetiker und Physiker — Jazon, Kronotos, Sarner, Liwin, Saurahan und einer, der den anderen den Rücken zuwandte und im Schatten der schrägen Trennwand ein großes Elektronengehirn programmierte.
„Es gibt zwei Eskalationslösungen. Annihilation oder Selbstvernichtung. Alles andere läuft auf veränderte Existenzbedingungen der Wolke hinaus“, sagte Saurahan. Rohau rührte sich nicht von der Stelle. Wieder einmal stand er da und lauschte.
„Die erste beruht darauf, einen Lawinenprozeß auszulösen.
Dazu braucht man einen Antimateriewerfer, der in die Schlucht fährt und dort bleibt.“
„Einer war schon dort“, sagte jemand.
„Wenn er kein Elektronengehirn hat, dann ist er selbst bei Temperaturen von mehr als einer Million Grad noch aktionsfähig. Einen Plasmawerfer braucht man dazu.
Plasma ist unempfindlich gegen Sterntemperaturen. Die Wolke wird sich genauso verhalten wie früher — sie wird versuchen, ihn abzuwürgen, Resonanz zu finden in den Steuerstromkreisen, aber Stromkreise werden nicht da sein.
Nichts wird sich abspielen außer einer unterschwelligen Kernreaktion. Je mehr Materie in die Reaktion einbezogen wird, um so heftiger wird sie sein. Auf diese Weise kann man die ganze Nekrosphäre des Planeten an einer Stelle zusammenfassen und annihilieren…“
Nekrosphäre, dachte Rohan. Ach so, weil diese winzigen Kristalle leblos sind. Nein, diese Wissenschaftler! Die finden doch immer einen hübschen, neuen Namen.
„Am besten gefällt mir die Variante der Selbstvernichtung“, sagte Jazon. „Aber wie stellen Sie sich das vor?“
„Na, sie beruht darauf, daß man zunächst eine getrennte Konsolidierung zweier großer ›Wolkengehirne‹ herbeiführt und sie dann zusammenstoßen läßt. Damit soll erreicht werden, daß jede Wolke die andere für einen Konkurrenten im Existenzkampf hält.“
„Schön. Aber wie wollen Sie das anfangen?“
„Es ist nicht einfach, aber immerhin möglich, sofern die Wolke nur ein Pseudogehirn ist, also unfähig, logisch zu folgern.“
„Das sicherste ist trotzdem die Veränderung der Existenzbedingungen über die Senkung der durchschnittlichen Strahlungsintensität“, sagte Sarner. „Vier Wasserstoffentladungen von fünfzig bis hundert Megatonnen pro Hemisphäre, insgesamt knapp achthundert, genügen. Das Wasser der Ozeane verdampft und verdichtet die Wolkendecke, die Albedo wächst, und die Symbionten am Boden können nicht mehr das zu ihrer Vermehrung notwendige Energieminimum an sie abgeben.“
„Diese Rechnung geht nicht auf“, wandte Jazon ein. Als Rohan sah, daß gleich ein fachlicher Streit ausbrechen würde, trat er von der Tür zurück und ging weiter.
Statt mit dem Fahrstuhl kehrte er über eine stählerne Wendeltreppe zurück, die sonst kaum benutzt wurde. Ein Stockwerk nach dem anderen blieb unter ihm. Er sah in der Reparaturhalle des Vries' Männer mit sprühenden Schweißbrennern an den dunklen, reglosen großen Arctanen arbeiten.
Von weitem bemerkte er die Bullaugen des Lazaretts, die ein gedämpftes lila Licht verbreiteten. Ein Arzt in weißem Kittel lief lautlos den Korridor entlang; ihm folgte ein kleiner Automat, der einen Satz blitzender Instrumente trug. Rohan ließ die Messen hinter sich, die leer und dunkel waren, die Klubräume, die Bibliothek, und langte schließlich in seinem Stockwerk an. Vor der Kabine des Astrogators verlangsamte er den Schritt; als wollte er auch hier lauschen; aber durch die glatte Türfläche drang kein Laut, kein Lichtstrahl, und die Bullaugen waren mit Kupfermuttern fest verschlossen. Erst in der Kabine spürte er wieder, wie müde er war. Gefühllos hingen ihm die Arme am Körper herab, er ließ sich schwer auf die Koje fallen, streifte die Schuhe von den Füßen und faltete die Hände im Nakken.