Wir haben 1420 Röntgen im Feld, das bedeutet, daß die Strahlung die Barriere des Kraftfeldes durchbrochen hat, überlegte Rohan. Er hatte nicht gewußt, daß so etwas möglich war. Aber als er auf die Skala des Hauptleistungsverteilers blickte, sah er, welch starke Ladung der Astrogator eingesetzt hatte. Mit dieser Energie konnte man ein Binnenmeer mittlerer Größe zum Sieden bringen. Nun, Horpach hatte kein weiteres Feuergefecht riskieren wollen.
Vielleicht war er dabei zu weit gegangen, jedenfalls aber hatten sie jetzt wieder nur einen Gegner.
Auf den Bildschirmen entfaltete sich indessen ein ungewöhnliches Schauspieclass="underline" Der krause, blumenkohlähnliche Pilzhut loderte in allen Regenbogenfarben, vom feinsten silbrigen Grün bis zu satten orange— und karminroten Tönungen.
Rohan bemerkte erst jetzt, daß die Wüste gar nicht zu sehen war. Wie eine dichte Nebelschicht überzog sie der einige Dutzend Meter hochgewirbelte Sand, der auf und ab wogte, als hätte sich die Wüste in ein Meer verwandelt.
Der Techniker las noch immer von der Skala ab: „Neunzehntausend im Nullpunkt. Acht Strich sechshundert im Umkreis. Eins Strich eins null zwei im Feld.“
Der Sieg über den Zyklopen wurde in dumpfem Schweigen hingenommen: Der Triumph, die eigene stärkste Waffe zerschlagen zu haben, reizte nicht zum Feiern. Allmählich gingen die Leute auseinander, während der Explosionspilz immer weiter in die Atmosphäre stieg und plötzlich an seiner Spitze in einem neuen Farbenspiel aufloderte, diesmal von den Strahlen der Sonne getroffen, die noch nicht aufgegangen war. Er hatte die obersten Schichten der eisigen Zirruswolken durchstoßen und nahm jetzt noch über ihnen goldlila, bernsteingelbe und platinweiße Schattierungen an, deren Lidft von den Bildschirmen in die Steuerzentrale fiel. Der ganze Raum schillerte, als hätte jemand auf den weißemaillierten Pulten bunte irdische Blumen zerrieben.
Noch einmal staunte Rohan, und zwar, als er Horpachs Äußeres sah. Der Astrogator hatte den schneeweißen Galamantel umgelegt, den er das letztemal bei den Abschiedsfeierlichkeiten in der Raumstation getragen hatte. Anscheinend hatte er das erste beste Kleidungsstück ergriffen, an das er geraten war. Er stand da, die Hände in den Taschen, das graue Haar an den Schläfen zerzaust, und ließ den Blick über die Versammelten schweifen.
„Kollege Rohan“, sagte er unverhofft mit weicher Stimme. „Bitte zu mir.“
Rohan trat näher und straffte sich unwillkürlich. Da wandte sich der Astrogator um und schritt zur Tür. Hintereinander gingen sie den Korridor entlang, und durch die Ventilationsscheibe hörten sie im Rauschen der Preßluft das dumpfe, wie ärgerliche Murmeln der Menschen, die die unteren Stockwerke füllten.
Das Gespräch
Die Aufforderung des Astrogators hatte Rohan nicht überrascht, und so betrat er die Kajüte. Er war zwar ein seltener Gast hier, aber nach seiner einsamen Rückkehr zu der Ausgangsstation im Krater war er an Bord des „Unbesiegbaren“ gerufen worden, und Horpach hatte ihn empfangen.
Eine solche Einladung hatte meist nichts Gutes zu bedeuten.
Damals stand Rohan allerdings noch zu sehr unter dem Eindruck der Katastrophe, als daß er den Zorn des Astrogators gefürchtet hätte. Im übrigen hatte Horpach ihn mit keinem Wort getadelt, sondern nur sehr genau über die Begleitumstände beim Angriff der Wolke ausgefragt. An dem Gespräch hatte Dr. Sax teilgenommen, der die Vermutung geäußert hatte, Rohan sei nur davongekommen, weil er in einem Stupor, einem Zustand der Starre, gewesen sei, der die elektrische Tätigkeit des Gehirns einschränkte, so daß die Wolke ihn für verletzt und bereits unschädlich gemacht gehalten habe. Und der Fahrer Jarg, meinte der Neurophysiologe, sei rein zufällig verschont geblieben, weil er durch seine Flucht außerhalb des Angriffsbereichs gewesen sei. Terner hingegen, der fast bis zuletzt versucht hatte, sich und die anderen zu verteidigen, indem er mit den Laserwerfern schoß, habe sich zwar pflichtgemäß verhalten, aber gerade das sei ihm, so paradox das klinge, zum Verhängnis geworden, weil sein Gehirn normal gearbeitet und dadurch die Aufmerksamkeit der Wolke auf sich gezogen habe. Nach menschlichem Ermessen sei sie selbstverständlich blind, und der Mensch stelle für sie nichts anderes dar als ein beliebiges, bewegliches Objekt, das seine Anwesenheit durch die elektrischen Potentiale seiner Gehirnrinde bekunde.
Horpach und der Arzt hatten sogar erwogen, die Leute dadurch zu schützen, daß sie mit Hilfe eines chemischen Präparates in einen künstlichen Erstarrungszustand versetzt wurden; aber Sax hatte gemeint, die Wirkung trete, wenn wirklich eine „elektrische Camouflage“ nötig sein sollte, zu spät ein, und die Leute gleich im Stupor hinauszuschicken sei auch nicht möglich. Schließlich hatte die ganze Befragung kein konkretes Ergebnis. Rohan glaubte, Horpach habe die Absicht, noch einmal auf die Sache zurückzukommen.
Mitten in der Kajüte, die doppelt so groß wie seine eigene war, blieb er stehen. In die Wand waren die Direktverbindungen zur Steuerzentrale und die Mikrofone für die Innenanlage eingelassen, sonst deutete nichts darauf hin, daß hier schon seit Jahren der Kommandant des Raumschiffes wohnte. Horpach warf den Mantel ab. Darunter trug er Hose und Netzhemd. Durch die Maschen stach die dichte, graue Behaarung seiner breiten Brust. Er setzte sich seitlich von Rohan, der noch immer stand, und stützte sich schwer auf den Tisch, auf dem außer einem kleinen, abgegriffenen, in Leder gebundenen Buch nichts war. Rohans Blick glitt von denn ihm unbekannten Buch zu dem Kommandanten hinüber, und ihm war, als sähe er ihn zum erstenmal. Das war ein zu Tode erschöpfter Mann, der nicht vor ihm zu verbergen suchte, daß ihm die Hand zitterte, als er sie an die Stirn führte. Und Rohan begriff plötzlich, daß er Horpach, unter dem er bereits das vierte Jahr arbeitete, überhaupt nicht kannte. Niemals war ihm in den Sinn gekommen, darüber nachzudenken, warum es in der Kajüte des Astrogators nichts Persönliches gab, nichts von dem manchmal spaßigen oder auch naiven Kleinkram, den die Männer in den Raum mitschleppten, Andenken an ihre Kindheit oder ihr Zuhause. In diesem Augenblick schien er zu verstehen, weshalb Horpach nichts dergleichen besaß, warum an den Wänden keine alten Fotos hingen, die die Gesichter nahestehender, auf der Erde gebliebener Menschen zeigten.
Er brauchte so etwas nicht, weil er mit Leib und Seele hier und weil die Erde nicht sein Zuhause war. Aber vielleicht bedauerte er das jetzt zum erstenmal in seinem Leben? Die massigen Schultern, die Arme und der Nacken verrieten nicht sein Alter. Alt war nur die Haut an den Händen, sie war dick und legte sich an den Gelenken in spröde Falten; sie wurde weiß, als er die Finger spreizte und mit scheinbar gelassenem, müdem Interesse das leichte Zittern beobachtete, als stellte er etwas fest, was ihm bislang fremd gewesen war. Rohan konnte das nicht mit ansehen. Aber Horpach neigte den Kopf, blickte ihm in die Augen und murmelte mit verlegenem Lächeln: „Ich habe den Bogen überspannt, was?“
Weniger die Worte verblüfften Rohan als der Ton, in dem sie gesprochen wurden, und das Gebaren des Astrogators.
Er antwortete nicht. Noch immer stand er da, und Horpach rieb sich mit der breiten Hand die behaarte Brust und fügte hinzu: „Vielleicht ist es auch besser so.“ Und ein paar Sekunden später mit überraschender Offenheit: „Ich wußte nicht, was ich tun sollte.“