Das war erschütternd. Rohan hatte zu wissen geglaubt, daß Horpach schon seit Tagen genauso hilflos, war wie sie alle. Doch in diesem Moment wurde ihm klar, daß er nichts genau gewußt, sondern daß er im Grunde damit gerechnet hatte, der Astrogator sei in seinem Denken jedem anderen immer um einige Schritte voraus, weil es. nun mal so sein müsse. Und nun zeigte sich ihm plötzlich das Wesen des Kommandanten gewissermaßen zwiefach, denn er sah Horpachs halbnackten Körper, diesen müden Körper mit den zitternden Händen, von dessen Vorhandensein er bisher nichts gewußt hatte, und hörte zugleich die Worte, die die Richtigkeit seiner Entdeckung bestätigten.
„Setz dich, Junge“, sagte der Kommandant. Rohan folgte der Aufforderung. Horpach stand auf, trat ans Waschbekken heran, spritzte sich Wasser über Gesicht und Nacken und trocknete sich rasch und kräftig ab. Dann zog er eine Jacke über, knöpfte sie zu und nahm ihm gegenüber Platz.
Er sah ihn mit seinen farblosen, stets wie von heftigem Wind leicht tränenden Augen an und fragte beiläufig: „Wie steht es mit deiner. Immunität? Haben sie dich untersucht?“
Also darum geht's ihm, fuhr es Rohan durch den Sinn.
Er räusperte sich. „Natürlich, die Ärzte haben mich untersucht, aber nichts gefunden. Wahrscheinlich hat Sax recht gehabt mit diesem Stupor.“
„Soso. Mehr haben sie nicht gesagt?“
„Zu mir nicht. Aber ich habe gehört, daß sie darüber diskutiert haben, warum die Wolke einen Menschen nur einmal angreift und ihn dann seinem Schicksal überläßt.“
„Interessant. Und?“
„Lauda vermutet, daß die Wolke dank der unterschiedlichen elektrischen Aktivität des Gehirns Normale und Beschädigte unterscheiden kann. Bei einem Beschädigten weise das Gehirn eine Aktivität auf wie bei einem Neugeborenen.
Jedenfalls annähernd. Mein Erstarrungszustand bot anscheinend ein recht ähnliches Bild. Sax meint, man könne ein feines Metallnetz herstellen, das im Haar versteckt werde und schwache Impulse aussende, ebensolche wie das Gehirn eines Verletzten. Eine Art Tarnkappe. So könne man sich vor der Wolke verbergen. Aber das ist nur eine Vermutung. Es ist noch nicht klar, ob es überhaupt möglich ist. Sie würden gern Versuche machen, aber sie haben nicht genug Kristalle. Der Zyklop hat uns damit ja auch im Stich gelassen…“
„Na schön.“ Der Astrogator seufzte. „Ich wollte über etwas anderes mit dir reden. Aber was hier gesagt wird, bleibt unter uns. Nicht wahr?“
„Gut“, sagte Rohan zögernd, und die Anspannung kehrte zurück.
Der Astrogator sah ihn jetzt nicht an, als fiele ihm der Anfang schwer.
„Ich habe noch immer nicht entschieden“, sagte er plötzlich.
„Mancher an meiner Stelle würde ein Geldstück hochwerfen: abfliegen oder bleiben. Aber ich mag nicht. Ich weiß, du bist oft nicht mit mir einverstanden.“
Rohan öffnete die Lippen, aber Horpach schnitt ihm sofort mit einer flüchtigen Handbewegung das Wort ab.
„Nein, nein… Nun hast du eine Chance. Ich gebe sie dir. Du wirst entscheiden. Ich tue, was du sagst.“
Er sah ihn an und verbarg gleich darauf seine Augen unter den schweren Lidern.
„Wie… ich?“ stammelte Rohan. Alles hätte er erwartet, nur das nicht.
„Ganz recht, du. Es bleibt selbstverständlich unter uns. Abgemacht! Du entscheidest, und ich führe deinen Befehl aus. Ich werde es vor der Leitung der Raumstation verantworten. Günstige Bedingungen, nicht wahr?“
„Meinen Sie das im Ernst?“ fragte Rohan, um Zeit zu gewinnen, denn er wußte ohnehin, daß alles Wirklichkeit war.
„Ja. Wenn ich dich nicht kennte, ließe ich dir Zeit. Aber ich weiß, daß du umherläufst und dir dein Teil denkst, daß du die Entscheidung längst getroffen hast. Ich würde sie nur nicht aus dir herausbekommen. Deshalb wirst du es mir hier sagen, gleich, auf der Stelle. Denn es ist ein Befehl. In diesem Augenblick bist du Kommandant des ›Unbesiegbaren‹.
„Du willst nicht auf Anhieb? Gut. Du hast eine Minute Bedenkzeit.“
Horpach stand auf, ging ans Waschbecken, strich sich mit der Handfläche über die Wangen, daß die grauen Bartstoppeln unter seinen Fingern raschelten, und begann, sich mir nichts, dir nichts mit dem elektrischen Apparat zu rasieren.
Er schaute in den Spiegel.
Rohan sah ihn und sah ihn auch wieder nicht. Seine erste Empfindung war Wut auf Horpach, der so rücksichtlos mit ihm umsprang, indem er ihm das Recht gab, ja eigentlich die Pflicht auferlegte, zu entscheiden, und ihm gleichzeitig die Zunge band und ihm von vornherein die ganze Verantwortung abnahm. Er kannte ihn gut genug, um zu wissen, daß alles gründlich durchdacht und nicht mehr zu ändern war. Die Sekunden verrannen, und er mußte sprechen, jetzt, sofort, aber er vermochte keinen Gedanken zu fassen. Alle Argumente, die er dem Astrogator so gern ins Gesicht geschleudert hätte, die er sich in nächtlichen Grübeleien wie eiserne Ziegel zurechtgelegt hatte, waren wie weggeblasen.
Die vier Männer lebten nicht mehr — das war beinahe sicher.
Wenn nicht dieses „beinahe“ wäre, brauchten sie nichts zu bedenken, hin und her zu wenden, sie würden einfach im Morgengrauen abfliegen. Aber jetzt nahm dieses „beinahe“ in ihm immer größere Ausmaße an. Solange er mit Horpach auf gleicher Stufe gestanden hatte, war er der Ansicht gewesen, sie sollten unverzüglich starten. Jetzt spürte er, daß er den Befehl nicht über die Lippen bringen würde. Er wußte, daß die Angelegenheit Regis ui damit nicht abgetan wäre, sondern erst richtig anfangen würde. Das hatte nichts mit Verantwortung vor der Leitung der Raumstation zu tun. Diese vier Männer würden auf dem Schiff umhergeistern, niemals mehr würde es so sein wie vorher. Die Besatzung wollte zurück. Aber da fiel ihm seine nächtliche Wanderung ein, und er begriff, daß sie nach einer gewissen Zeit daran denken und dann darüber sprechen würden. Sie würden sagen: „Seht ihr? Er hat vier Leute dort gelassen und ist gestartet.“ Alles andere würde nicht zählen. Jeder einzelne mußte wissen, daß die anderen ihn unter keinen Umständen im Stich lassen würden. Alles durfte man verlieren, aber die Besatzung mußte man vollzählig an Bord haben — die Lebenden und die Toten. Dieser Grundsatz stand nicht in der Dienstordnung. Aber anders könnte niemand den Weltraum befliegen.
„Ich höre“, sagte Horpach, legte den Rasierapparat beiseite und setze sich ihm gegenüber.
Rohan befeuchtete sich die Lippen.
„Man müßte versuchen…“
„Was?“
„Sie zu finden.“
Nun war es heraus. Er wußte, daß ihm der Astrogator nicht widersprechen würde. Er war jetzt eigentlich felsenfest überzeugt, daß Horpach gerade damit gerechnet, daß er es bewußt arrangiert hatte. Um nicht allein das Risiko tragen zu müssen.
„Die vier. Ich verstehe. Gut.“
„Aber wir brauchen einen Plan. Etwas Vernünftiges.“
„Vernünftig waren wir die ganze Zeit“, erwiderte Horpach.
„Den Erfolg kennst du ja.“
„Darf ich etwas sagen?“
„Bitte.“
„Ich war heute nacht auf der Beratung der Strategen.
Das heißt, ich habe gehört… Nein, lassen wir das, es ist unwichtig. Sie arbeiten mehrere Varianten für die Annihilation der Wolke aus, aber wir haben doch nicht die Aufgabe, sie zu vernichten, sondern die vier zu suchen. Wenn wir also ein Antiprotonenmassaker veranstalten, so übersteht keiner eine zweite solche Hölle, falls überhaupt noch einer von ihnen am Leben ist. Keiner. Das ist unmöglich.“
„Das meine ich auch“, sagte der Astrogator gedehnt.
„Sie auch? Wie gut. Also?“
Horpach schwieg.
„Haben sie… noch eine andere Lösung gefunden?“
„Die Strategen? Nein.“
Rohan wollte noch etwas fragen, aber er hatte nicht den Mut. Die Worte erstarben ihm auf den Lippen. Horpach sah ihn an, als wartete er auf etwas. Aber Rohan wußte nichts zu sagen — glaubte der Kommandant etwa, er vermöchte allein, auf eigene Faust, etwas Besseres, Vollkommeneres auszudenken als die Wissenschaftler, als die Kybernetiker und Strategen mit ihren Elektronengehirnen? Das war doch Unsinn. Und doch sah er ihn geduldig an. Sie schwiegen. Gleichzeitig tropfte der Wasserhahn, ungemein laut in dieser tiefen Stille. Und in diesem Schweigen, das zwischen ihnen lag, stieg etwas herauf und streifte mit eisigem Hauch Rohans Wangen. Schon krampfte sich sein ganzes Gesicht, die Haut vom Nacken bis zu den Kiefern zusammen, wurde gewissermaßen zu eng, als er in Horpachs tränende, nun unsäglich alte Augen blickte. Er sah nur noch diese Augen und wußte Bescheid.