Rohan wollte auch Regnar die Erkennungsmarke abnehmen, doch diesmal konnte er sich nicht dazu durchringen.
Er schnallte nur die Tasche ab, weil er so den Leichnam nicht zu berühren brauchte. Aber sie war bis obenhin mit Mineralbrocken vollgestopft. Nach kurzem überlegen brach er also mit dem Messer nur das am Leder befestigte Monogramm des Geologen ab, steckte es ein und versuchte, von einem hohen Stein aus die leblose Szene noch einmal überüberblickend, zu begreifen, was hier eigentlich geschehen war. Es sah aus, als hätte Regnar auf den Roboter geschossen.
Hatte der vielleicht ihn oder Benningsen angegriffen?
Konnte schließlich ein amnesiegelähmter Mensch überhaupt einen Angriff abwehren? Er sah, daß er des Rätsels Lösung nicht finden würde, er mußte weitersuchen. Wieder blickte er auf die Uhr: Es war kurz vor fünf. Wenn er nur auf den eigenen Sauerstoffvorrat angewiesen sein sollte, dann mußte er sich bereits auf den Rückweg machen. Da fiel ihm plötzlich ein, daß er doch die Sauerstoffbehälter aus Regnars Gerät ausschrauben könnte. Er hob also dem Toten den ganzen Apparat von den Schultern und stellte fest, daß ein Behälter noch voll war. Er tauschte ihn mit seinem geleerten aus und ging daran, rings um den Leichnam Steine aufzuhäufen.
Das nahm fast eine Stunde in Anspruch, aber er war der Ansicht, der Tote habe es ihm ohnehin überreichlich dadurch gelohnt, daß er ihm seinen Sauerstoffvorrat abgetreten hatte. Als der kleine Hügel fertig war, dachte Rohan, es wäre eigentlich gut gewesen, sich mit einer Waffe zu versehen, wie der gewiß noch geladene kleine Weyr-Werfer eine war. Aber wieder dachte er zu spät daran und mußte mit leeren Händen abziehen.
Es war kurz vor sechs. Er war so müde, daß er kaum noch die Füße heben konnte. Er besaß noch vier Tabletten eines stimulierenden Mittels. Eine davon nahm er und stand eine Minute später, als er spürte, daß die Kräfte zurückkehrten, vom Boden auf. Da er nicht die leiseste Ahnung hatte, wo er nun noch suchen sollte, lief er einfach geradenwegs auf das Felsentor zu. Als er noch etwa einen Kilometer davon entfernt war, warnte der Indikator vor zunehmender radioaktiver Verseuchung. Zunächst war sie noch ziemlich gering, und er schritt aus und beobachtete dabei das Gelände ringsum. Da die Schlucht viele Windungen hatte, wiesen nur manche Felsen an ihrer Oberfläche Spuren des Schmelzprozesses auf. Je weiter er kam, desto häufiger traf er jene charakteristische, rissige Glasur an, bis er schließlich ganze, zu riesigen Blasen erstarrte Felsbrocken erblickte, deren Oberfläche unter den Schlägen der thermischen Entladungen gekocht hatte. Er hatte hier eigentlich nichts mehr zu schaffen, dennoch ging er weiter. Die Meßuhr an seinem Handgelenk ließ jetzt ein leichtes, immer schnelleres Ticken hören, der Zeiger tanzte wie wild über die Skala, sprang von einem Teilstrich zum anderen. Endlich erkannte er in der Ferne die Reste des Felsentores, die in einen muldenähnlichen Kessel gestürzt waren. Er sah aus wie ein kleiner See, dessen Wasser durch einen gewaltigen Einschlag über die Ufer gespritzt und auf unheimliche Weise erstarrt war. Der Felssockel hatte sich in eine dicke Lavakruste verwandelt, und der einst schwarze Pelz des Metallgestrüpps war nun ein einziger Asche gewordener Fetzen. Im Innern der Schlucht schimmerten zwischen den Felswänden riesige Schründe von hellerer Färbung. Rohan machte eilends kehrt.
Und wieder kam ihm der Zufall zu Hilfe. Als er bereits an einem zweiten, bedeutend breiteren Felsentor hinter dem Kampfplatz anlangte, sah er in der Nähe, an einer Stelle, an der er schon einmal gewesen war, einen Metallgegenstand funkeln. Es war der Aluminiumreduktor eines Sauerstoffgerätes.
In einem flachen Spalt zwischen dem Felsen und dem ausgetrockneten Bachbett dunkelte ein Rücken in rauchgeschwärztem Schutzanzug. Die Leiche war ohne Kopf. Der fürchterliche Luftdruck hatte den Mann über einen Steinhaufen getragen und gegen den Felsen geschmettert.
Ein wenig abseits lag unbeschädigt die Waffentasche, darin stak fest der Weyr-Werfer und blitzte, als wäre er erst vor kurzem gereinigt worden. Rohan nahm ihn an sich.
Er wollte den Toten identifizieren, aber es war unmöglich.
Er marschierte weiter schluchtaufwärts. Das Licht auf dem Osthang färbte sich bereits rot und glitt wie ein flammender Vorhang immer höher, je tiefer die Sonne hinter den Bergrücken sank. Es war ein Viertel vor sieben. Rohan stand vor einem echten Dilemma. Bisher hatte er, zumindest in gewisser Beziehung, Glück gehabt: Er hatte seinen Auftrag erfüllt, war heil davongekommen und konnte zum Raumkreuzer zurückkehren. Daß der vierte Mann nicht mehr am Leben war, unterlag — davon war er überzeugt — keinem Zweifel, aber das hatte man schließlich schon an Bord des „Unbesiegbaren“ für sehr wahrscheinlich gehalten.
Er war hier, um sich Gewißheit zu holen. Hatte er also das Recht umzukehren? Die Sauerstoffreserve, die er Regnars Gerät verdankte, reichte für weitere sechs Stunden. Er hatte jedoch die ganze Nacht vor sich, in der er nichts unternehmen konnte, nicht nur wegen der Wolke, sondern allein, weil er fast völlig erschöpft war. Er schluckte eine zweite Tablette und versuchte, während er auf ihre Wirkung wartete, einen einigermaßen vernünftigen Plan für das weitere Vorgehen zu entwerfen.
Der blutrote Schein der untergehenden Sonne übergoß jetzt in immer satteren Tönen das schwarze Dickicht auf den Felsgraten hoch über ihm, die Zacken der Sträucher funkelten und schillerten in tiefem Violett.
Rohan vermochte sich noch immer nicht zu entschließen.
Als er so unter einem riesigen Felsblock saß, hörte er in der Ferne das volltönende Summen der heranziehenden Wolke.
Und seltsam — er erschrak nicht. Im Laufe dieses einen Tages hatte sich sein Verhältnis zu ihr merkwürdig gewandelt.
Er wußte, oder er glaubte zumindest zu wissen, wie weit er gehen durfte, wie ein Bergsteiger, den der Tod, der in den Gletscherwänden lauert, nicht schrecken kann. Allerdings war er sich dieser inneren Wandlung selbst nicht recht bewußt, denn er hatte nicht in seinem Gedächtnis den Augenblick registriert, da ihm zum erstenmal, als das schwarze Gestrüpp auf den Felsen in allen violetten Tönungen schillerte, dessen düstere Schönheit aufgegangen war. Aber jetzt, als er die schwarzen Wolken bereits gesichtet hatte — zwei Wolken schwärmten von den Hängen gegenüber auf und näherten sich —, rührte er sich überhaupt nicht, suchte auch nicht mehr mit gegen die Steine gepreßtem Gesicht Schutz. Schließlich war es ganz und gar gleichgültig, was er tat, wenn nur der verborgene, kleine Apparat funktionierte.