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Dr. John Stillingfleet und Hercule Poirot gingen an der Seite von Northway House entlang. Zu ihrer Rechten erhob sich die ragende Fabrikwand, und links über ihnen befanden sich die Fenster von Benedict Farley und Hugo Cornworthy. Hercule Poirot blieb plötzlich stehen und hob einen Gegenstand auf - eine ausgestopfte schwarze Katze.

»Voila«, sagte er. »Hier haben wir das, was Cornworthy mit der Faulenzerzange an Farleys Fenster hielt. Farley haßte ja Katzen, wie Ihnen vielleicht bekannt ist, und stürzte natürlich ans Fenster.«

»Warum in aller Welt ist Cornworthy denn nicht nach draußen geeilt und hat das Ding aufgehoben, nachdem er es hatte fallen lassen?«

»Wie konnte er das tun? Das hätte bestimmt Verdacht erregt. Und was denkt sich schon jemand dabei, wenn er diese Katze findet? Höchstens, daß ein Kind hier gespielt und sie verloren hat.«

»Ja«, seufzte Stillingfleet, »das hätte ein gewöhnlicher Sterblicher wahrscheinlich angenommen. Aber nicht der gute alte Hercule! Wissen Sie, bis zum allerletzten Augenblick habe ich angenommen, daß Sie irgendeine hochtrabende Theorie von einem psychologischen, >suggerierten< Mord entwickeln würden. Ich möchte wetten, daß die beiden das auch vermutet haben! Eine garstige Nummer, diese Farley! Meine Güte, wie sie zusammensackte! Cornworthy hätte sich vielleicht noch aus der Affäre gezogen, wenn sie nicht diesen hysterischen Anfall bekommen und versucht hätte, Ihre Schönheit mit ihren Krallen zu verschandeln. Nur mit Mühe und Not habe ich Sie aus ihren Klauen retten können.«

Nach einer kleinen Pause fuhr er fort:

»Die Tochter gefällt mir eigentlich ganz gut. Schneid, wissen Sie, und Grips. Würde man mich wohl für einen Glücksjäger halten, wenn ich mein Heil bei ihr versuchte?«

»Da kommen Sie zu spät, guter Freund. Es ist schon ein Anwärter da. Der Tod ihres Vaters hat ihr den Weg zum Glück geebnet.«

»Richtig gesehen, hatte sie ein ziemlich gutes Motiv, um den unangenehmen Pater familias abzuknallen.«

»Motiv und Gelegenheit genügen nicht«, entgegnete Poirot. »Es muß auch die verbrecherische Anlage vorhanden sein.«

»Werden Sie jemals ein Verbrechen begehen, Poirot?« fragte Stillingfleet. »Ich möchte wetten, daß Sie ungestraft davonkämen. Aber es wäre tatsächlich zu leicht für Sie - aus diesem Grunde schon ist es zu verwerfen; denn es wäre entschieden zu unsportlich.«

»Das«, meinte Poirot, »ist eine typisch englische Idee.«

Haus Nachtigall

»Auf Wiedersehen, Liebling!«

»Auf Wiedersehen, mein Schatz!«

Alix Martin lehnte sich über das schmale Gartentor und sah ihrem Mann nach, der den Weg zum Dorf hinunterging. Kleiner und kleiner wurde die Gestalt, jetzt war sie in einer Kurve verschwunden, aber Alix verharrte immer noch in derselben Stellung. In Gedanken versunken, strich sie eine Locke ihres dichten braunen Haares aus ihrem Gesicht. Ihre Augen blickten träumerisch in die Ferne.

Alix Martin war nicht schön, strenggenommen nicht einmal hübsch. Ihr Gesicht war das einer Frau, die nicht mehr in ihrer ersten Jugend ist. Trotzdem war es strahlend und weich, und ihre früheren Kollegen aus dem Büro hätten sie wahrscheinlich kaum wiedererkannt.

Miss Alix King war eine ordentliche, geschäftstüchtige junge Frau gewesen, etwas brüsk in ihrem Benehmen, aber sie stand offensichtlich mit beiden Füßen auf der Erde.

Alix war durch eine harte Schule gegangen. Fünfzehn Jahre lang, von ihrem achtzehnten Lebensjahr, bis sie dreiunddreißig war, hatte sie für sich selbst gesorgt, sieben Jahre davon auch noch für ihre kranke Mutter. Den Unterhalt hatte sie durch ihre Arbeit als Stenotypistin verdient. Dieser Existenzkampf hatte die weichen Linien ihres Gesichtes gehärtet.

Sicher, es hatte auch Liebe gegeben - so eine Art. Dick Windyford, ein Büroangestellter. Ohne es sich je anmerken zu lassen, hatte Alix natürlich gewußt, was er für sie empfand. Nach außen hin waren sie Freunde gewesen, mehr nicht. Mit seinem spärlichen Gehalt konnte Dick im Moment noch nicht ans Heiraten denken. Er mußte für die Schulkosten eines jüngeren Bruders aufkommen.

Unerwartet war es dann plötzlich mit der täglichen Plackerei zu Ende. Eine entfernte Kusine war gestorben und hatte Alix ihr Geld hinterlassen. Es waren ein paar tausend Pfund, genug, um ein paar hundert im Jahr einzubringen. Für Alix bedeutete es Freiheit, Leben, Unabhängigkeit. Nun brauchten Dick und sie nicht länger zu warten.

Aber Dick reagierte eigenartig. Er hatte niemals offen zu Alix über seine Liebe gesprochen, und jetzt schien er es weniger denn je zu beabsichtigen. Er ging ihr aus dem Wege, wurde mürrisch und verschlossen.

Alix erkannte den Grund sehr schnell. Dick war zu feinfühlend und stolz, um ausgerechnet jetzt, da sie Geld hatte, um ihre Hand anzuhalten. Sie liebte ihn dafür noch mehr und hatte sich schon vorgenommen, selbst den ersten Schritt zu tun, als zum zweitenmal das Unerwartete in ihr Leben trat.

Im Hause einer Freundin lernte sie Gerald Martin kennen. Er verliebte sich stürmisch in sie, und eine Woche später waren sie verlobt. Alix, die von sich selbst überzeugt gewesen war, daß ihr so etwas nie passieren könnte, war im siebenten Himmel.

Damit hatte sie unwissentlich den Weg gefunden, um Dick Windyford wachzurütteln. In Rage und voller Empörung war er zu ihr gekommen.

»Dieser Mann ist ein völlig Fremder für dich. Du weißt überhaupt nichts über ihn«, hatte er ihr vorgehalten.

»Ich weiß, daß ich ihn liebe.«

»Wie kannst du das nach einer Woche?«

»Nicht jeder braucht elf Jahre, um herauszufinden, daß er in ein Mädchen verliebt ist«, hatte sie ihn ärgerlich angeschrien.

Sein Gesicht war weiß.

»Ich habe dich geliebt, seit ich dich zum erstenmal sah. Ich dachte, du liebst mich auch.«

Alix war ehrlich. »Ich glaubte das auch«, gab sie zu. »Aber das war, weil ich nicht wußte, was Liebe ist.«

Dick war außer sich gewesen. Bitten, Flehen, sogar Drohungen - Drohungen gegen den Mann, der ihn verdrängt hatte, stieß er aus. Alix war erstaunt, als sie den Vulkan erlebte, der unter dem reservierten Äußeren des Mannes steckte, von dem sie glaubte, ihn so gut zu kennen.

Als sie an diesem sonnigen Morgen an dem Gartentor des Landhauses lehnte, wanderten ihre Gedanken zurück zu diesem Gespräch. Einen Monat lang war sie verheiratet, und sie war wunschlos glücklich. Jetzt, da ihr Mann, der ihr alles bedeutete, nicht da war, schlich sich trotzdem ein Beigeschmack von Angst in ihr perfektes Glück. Und der Grund für diese Angst war Dick Windyford.

Dreimal seit ihrer Hochzeit hatte sie denselben Traum gehabt. Die Umgebung war stets eine andere, aber die Hauptsache war immer die gleiche: Sie sah ihren Mann tot daliegen, und Dick Windyford stand über ihn gebeugt, und sie wußte, daß es Dick war, der ihn erschlagen hatte. Aber so schrecklich das auch war, es gab noch etwas Entsetzlicheres, und zwar nach dem Erwachen, denn im Traum schien es völlig natürlich und unvermeidlich zu sein. Sie, Alix Martin, war froh, daß ihr Mann tot war. Sie streckte dem Mörder die Hände entgegen, manchmal dankte sie ihm. Der Traum endete immer gleich: sie war in Dick Windyfords Arme geschmiegt.

Sie hatte ihrem Mann nichts von diesem Traum erzählt, aber innerlich hatte er sie tiefer beunruhigt, als sie zugeben wollte. War es eine Warnung - eine Warnung vor Dick Windyford?

Alix wurde aus ihren Gedanken gerissen, als das schrille Läuten des Telefons aus dem Hause drang. Sie ging hinein und nahm den Hörer ab. Plötzlich schwankte sie und hielt sich an der Wand fest.

»Wer, sagten Sie, ist am Apparat?«

»Aber, Alix, was ist denn los mit dir? Ich hätte deine Stimme fast nicht erkannt. Hier ist Dick.«