»Oh«, brachte sie hervor. »Oh! Wo - wo bist du?«
»In >Traveller's Armsc, so heißt das wohl, nicht wahr? Oder kennst du nicht einmal eure Dorfwirtschaft? Ich habe Urlaub, möchte ein bißchen fischen hier. Hast du etwas dagegen, daß ich euch heute nach dem Abendessen besuche?«
»Nein!« antwortete Alix scharf. »Du darfst nicht kommen!«
Nach einer kleinen Pause kam Dicks veränderte Stimme wieder.
»Es tut mir leid«, sagte er förmlich, »ich möchte dich natürlich nicht belästigen -«
Alix unterbrach ihn hastig. Er mußte ihr Benehmen als reichlich ungewöhnlich betrachten. Es war auch ungewöhnlich. Ihre Nerven hatten sie im Stich gelassen.
»Ich meinte nur, daß wir für heute abend schon verabredet sind«, erklärte sie und versuchte ihrer Stimme einen möglichst natürlichen Klang zu geben. »Möchtest du nicht -würdest du morgen zum Abendessen kommen?«
Aber Dick hatte offenbar den plötzlichen Meinungsumschwung bemerkt.
»Vielen Dank«, antwortete er, »aber ich werde wohl wieder weiterfahren. Es hängt davon ab, ob ein Freund von mir herkommt oder nicht. Auf Wiedersehen, Alix.« Er hielt einen Moment inne und fügte dann hastig hinzu: »Viel Glück, Alix.«
Mit einem Gefühl der Erleichterung legte Alix den Hörer auf die Gabel. Er darf nicht herkommen, wiederholte sie in Gedanken. Er darf nicht herkommen. Gott, was bin ich dumm, mich so aufzuregen! Trotzdem bin ich froh, daß er nicht kommt.
Sie nahm einen Strohhut vom Tisch und ging wieder hinaus in den Garten. Einen Moment blieb sie stehen und blickte auf den Namen, der draußen am Tor eingeschnitzt war: Haus Nachtigall.
»Ist das nicht ein sehr eigentümlicher Name?« hatte sie zu Gerald gesagt, bevor sie heirateten. Er hatte gelacht.
»Du kleines Londoner Stadtkind«, hatte er liebevoll geantwortet. »Ich glaube, du hast noch nie eine Nachtigall gehört. Ich bin froh darüber. Wir werden sie an einem Sommerabend zusammen vor unserem eigenen Haus hören.«
Als sich Alix jetzt daran erinnerte, errötete sie vor Glück.
Es war Gerald, der Haus Nachtigall gefunden hatte. Er war zu Alix gekommen, vor Aufregung ganz außer sich: er habe genau das Richtige für sie auf getrieben, ein Juwel, die Chance des Lebens. Gewiß, die Lage war ziemlich einsam, zwei Meilen vom nächsten Dorf entfernt. Aber das Haus selbst war so auserlesen mit seinem an frühere Zeiten erinnernden Aussehen und seinem andererseits soliden Komfort mit Badezimmern, Heißwassersystem, elektrischem Licht und Telefon, daß Alix diesen Reizen sogleich erlegen war. Doch dann stellte sich heraus, daß die Sache einen Haken hatte. Der Besitzer, ein reicher Mann, lehnte ab zu vermieten. Er wollte nur verkaufen.
Gerald Martin war nicht imstande, sein Kapital anzurühren. Er hatte zwar ein gutes Einkommen, aber das Äußerste, was er aufbringen konnte, wären tausend Pfund gewesen. Der Besitzer wollte dreitausend. Aber Alix hatte ihr Herz schon an dieses Haus verloren, und sie wußte Rat.
Ihr eigenes Geld konnte leicht flüssiggemacht werden, da es in Pfandbriefen angelegt war. Sie würde die Hälfte davon zur Verfügung stellen, um ihr Heim zu kaufen. So wurde Haus Nachtigall ihr Eigentum, ein Entschluß, den Alix bisher keinen Augenblick bereut hatte. Sicher, die Dienstboten mochten die ländliche Abgeschiedenheit nicht, darum hatte sie im Moment auch keine Hilfe. Aber Alix, jahrelang nur den eintönigen Bürobetrieb gewohnt, machte es Spaß, Leckerbissen zu kochen und nach dem Haus zu sehen. Für den Garten, in dem prachtvolle Blumen wuchsen, hatte sie einen alten Mann aus dem Dorf, der zweimal wöchentlich, und zwar immer montags und freitags, kam.
Sie war deshalb erstaunt, ihn heute, Mittwoch, hinter dem Haus mit einem Blumenbeet beschäftigt, anzutreffen.
»Nanu, George, was machen Sie denn hier?« fragte sie, als sie auf ihn zukam.
Der alte Mann richtete sich mühsam auf und hob zwei Finger an das Schild seiner uralten Mütze.
»Ich dachte mir schon, daß Sie sich wundern würden, Madam. Aber es ist so. Auf dem Gut wird am Freitag ein Fest gefeiert, und ich sagte mir, weder Mr. Martin noch seine junge Frau werden etwas dagegen haben, wenn ich mal statt Freitag schon am Mittwoch komme.«
»Ist schon in Ordnung«, antwortete Alix. »Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen.«
»Das werde ich haben«, meinte George treuherzig, »Es ist 'ne feine Sache zu wissen, daß man sich vollessen kann, ohne selbst zu bezahlen. Der Graf ist bei seinen Leuten nie kleinlich gewesen. Und dann dachte ich mir auch, Madam, ich kann Sie genauso gut jetzt, bevor Sie wegfahren, nach Ihren Wünschen für die Rabatten fragen. Sie wissen wohl nicht, wann Sie zurückkommen, Madam?«
»Aber ich fahre gar nicht fort.«
George starrte sie an.
»Fahren Sie denn morgen nicht nach London?«
»Nein. Wie kommen Sie auf diese Idee?«
George rückte mit einer langsamen Bewegung seine Mütze ins Genick.
»Mr. Martin hat es mir erzählt, als ich ihn gestern im Dorf traf. Er sagte, Sie beide fahren morgen nach London, und es wäre ungewiß, wann Sie wieder zurückkämen.«
»Unsinn«, lachte Alix. »Sie müssen ihn mißverstanden haben.«
Trotzdem wunderte sie sich, was Gerald wohl zu dem alten Mann gesagt hatte. Nach London fahren? Sie wollte niemals wieder nach London fahren.
»Ich hasse London«, sagte sie plötzlich scharf.
»Aha«, meinte George gelassen. »Na, dann werd' ich mich wohl verhört haben. Und doch, er sagte es ja ganz deutlich. Ich bin froh, daß Sie hierbleiben. Ich halte nichts von dieser Umherstreicherei, und von London halte ich überhaupt nichts. Ich habe, Gott sei Dank, nie hinfahren müssen. Zu viele Autos - das ist das Schlimmste heutzutage. Wenn die Leute erst mal ein Auto haben, dann können sie nicht mehr an einem Platz bleiben. Mr. Ames, dem dieses Haus früher gehörte, war immer ein friedlicher, ruhiger Mann, bis er sich so ein Ding kaufte. Noch nicht einen Monat hat er es gehabt, als er auch schon das Haus zum Verkauf anbot. Und 'ne Menge Geld hatte er hier 'reingesteckt, mit Wasserbecken in allen Schlafzimmern und dem elektrischen Licht und so. >Das Geld kriegen Sie nie wiederc, sagte ich ihm, aber er meinte, er bekäme zweitausend Pfund für dieses Haus, und zwar auf den Penny. Und richtig, er bekam es auch.«
»Es waren dreitausend«, unterbrach Alix lächelnd seinen Redeschwall.
»Zweitausend«, wiederholte George. »Die Summe, die er damals verlangte, wurde lange genug besprochen.«
»Es waren wirklich dreitausend«, sagte Alix.
George war nicht zu überzeugen. »Damen verstehen Zahlen nie«, meinte er. »Sie wollen mir doch nicht weismachen, daß Mr. Ames den Nerv hatte, von Ihnen dreitausend zu verlangen?«
»Er verlangte es nicht von mir, sondern von meinem Mann«, antwortete Alix.
George kniete sich wieder hin.
»Der Preis war zweitausend«, murmelte er störrisch.
Alix hatte keine Lust, sich mit ihm zu streiten. Sie ging zu einem anderen Beet und pflückte sich einen Armvoll Blumen.
Als sie ihren Strauß ins Haus bringen wollte, bemerkte sie im Vorbeigehen einen kleinen dunkelgrünen Gegenstand, der zwischen einigen Blättern hervorschaute. Sie bückte sich, hob ihn auf und sah, daß es das Notizbuch ihres Mannes war.
Sie öffnete es und durchblätterte amüsiert die Eintragungen. Gleich zu Beginn ihres Ehelebens hatte sie erkannt, daß Gerald, der impulsiv und gefühlvoll war, einen ausgeprägten Sinn für Ordnung und Systematik besaß, was eigentlich nicht zusammenpaßte. Er war geradezu versessen darauf, daß die Mahlzeiten pünktlichst eingehalten wurden, und plante seinen Tagesablauf mit der Präzision eines Stundenplanes voraus.
Während sie das Notizbuch durchstöberte, entdeckte sie zu ihrer Erheiterung die Eintragung vom 14. März: Alix heiraten, 14.30 Uhr, St.-Peters-Kirche.
»Der große Junge«, murmelte sie und blätterte weiter. Plötzlich hielt sie ein.
»>Mittwoch, 18. Juni< - das ist ja heute!«