»Ich habe es mir anders überlegt«, antwortete er ruhig. »Ich werde heute abend keine Fotoarbeiten machen.«
Die Gedanken einer Frau sind eine seltsame Sache. Als Alix an diesem Mittwoch abend zu Bett ging, war sie ruhig und mit sich zufrieden. Der Ärger war vergessen und ihr Glück ungetrübt wie eh und je.
Aber am Abend des folgenden Tages bemerkte sie, daß irgendwelche Kräfte wieder daran wären, dieses Gefühl des Glücks zu unterminieren. Dick Windyford hatte nicht noch einmal angerufen. Trotzdem führte sie es auf ihn zurück. Immer und immer wieder kamen ihr seine Worte in den Sinn: »Dieser Mann ist ein völlig Fremder. Du weißt überhaupt nichts über ihn.« Und sie sah ihren Mann wieder vor sich, wie er sagte: »Alix, hältst du dieses BlaubartGehabe für klug?« Weshalb hatte er das gesagt? Eine Warnung hatte in diesen Worten gelegen - ein Anflug von Drohung, so als wollte er sagen: »Schnüffle nicht in meiner Vergangenheit, Alix, sonst kannst du eine peinliche Überraschung erleben.«
Bis Freitag morgen hatte sich Alix eingeredet, daß es tatsächlich eine Frau in Geralds Leben gegeben hatte, eine Affäre, die er eifrig vor ihr zu verbergen trachtete. Ihre Eifersucht kannte keine Grenzen.
War es eine Frau, die er neulich abends um neun Uhr treffen wollte? War seine Geschichte, Negative entwickeln zu wollen, eine Notlüge, die er aus dem Augenblick heraus erdacht hatte? Vor drei Tagen noch hätte sie geschworen, daß sie ihren Mann durch und durch kenne. Jetzt hatte sie das Gefühl, daß er ein Fremder war, über den sie nichts wußte. Sie erinnerte sich an seinen Ärger über den alten George. So aufgebracht war er noch nie gewesen. Eine Kleinigkeit, vielleicht, aber sie zeigte ihr, daß sie den Mann, mit dem sie verheiratet war, nicht wirklich kannte.
Am Freitag mußten verschiedene Kleinigkeiten aus dem Dorf besorgt werden. Am Nachmittag schlug Alix vor, daß sie dies erledigen werde; Gerald könne im Garten bleiben. Aber zu ihrer Verwunderung war er damit nicht einverstanden und erklärte eigensinnig, daß er sich um die Sachen kümmern werde und sie zu Hause bleiben solle.
Alix gab nach, aber seine Beharrlichkeit erstaunte und alarmierte sie. Weshalb wollte er so ängstlich vermeiden, daß sie ins Dorf ging?
Plötzlich fiel ihr eine Erklärung dafür ein. War es nicht möglich, daß er Dick Windyford getroffen hatte, ohne ihr etwas davon zu sagen? Als sie heirateten, war Alix nicht eifersüchtig gewesen. Und jetzt? - Konnte es mit Gerald nicht dasselbe sein? Vielleicht wollte er nur verhindern, daß sie Dick wiedersah. Diese Erklärung war so einleuchtend, und sie hatte etwas so Tröstliches, daß Alix sich nur zu gern daran klammerte.
Aber später, nach dem Tee, war sie wiederum ruhelos und nervös. Sie kämpfte mit einer Versuchung, die sie seit Geralds Weggehen verspürte. Zu guter Letzt, als sie sich lange genug eingeredet hatte, daß das Ankleidezimmer ihres Mannes eine gründliche Reinigung nötig habe, ging sie mit einem Staubtuch hinauf. »Wenn ich nur sicher wäre«, wiederholte sie immer wieder, »wenn ich nur ganz sicher wäre!«
Vergeblich versuchte sie sich davon zu überzeugen, daß alles, was kompromittierend sein könnte, gewiß schon vor Jahren vernichtet worden war. Dagegen wiederum argumentierte sie, daß Männer oft die verrücktesten Beweisstücke aus übertriebener Sentimentalität aufbewahrten.
Am Ende unterlag Alix. Ihre Wangen brannten vor Scham über ihr Tun, während sie atemlos in gebündelten Briefpäckchen und Dokumenten wühlte, die Schubladen herauszog und sogar die Taschen der Anzüge ihres Mannes durchstöberte. Nur zwei Schubladen machten ihr einen Strich durch die Rechnung. Die unterste der Kommode und eine schmale Lade rechts im Schreibtisch waren verschlossen. Aber inzwischen hatte Alix jede Hemmung verloren. Sie war nun fest überzeugt, in einem dieser beiden Fächer Beweise für die Existenz dieser eingebildeten Frau aus der Vergangenheit zu finden, die ihr im Kopf herumspukte.
Ihr fiel ein, daß Gerald seine Schlüssel achtlos unten auf die Anrichte gelegt hatte. Sie holte sie und probierte einen nach dem anderen aus. Der dritte paßte für das Schreibtischfach. Begierig öffnete Alix. Sie fand ein Scheckbuch und eine prall mit Geldnoten gefüllte Brieftasche und dann, ganz hinten, ein Bündel Briefe, säuberlich mit einem Band zusammengeschnürt. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen, als sie das Band löste.
Brennende Schamröte übergoß ihr Gesicht, und sie ließ das Bündel zurück in die Lade fallen, schob sie zu und verschloß sie wieder. Es waren die Briefe, die sie vor ihrer Hochzeit an Gerald geschrieben hatte.
Sie wandte sich jetzt der untersten Schublade zu, mehr aus dem Gefühl heraus, nichts auslassen zu wollen, als in der Erwartung, etwas zu entdecken. Ärgerlich stellte sie fest, daß keiner der Schlüssel von Geralds Bund paßte. Sie ging in ein anderes Zimmer und kam mit einer Auswahl kleiner Schlüssel zurück. Befriedigt fand sie heraus, daß ein Reserveschlüssel vom Kleiderschrank paßte. Sie schloß auf und öffnete. Was sie fand, war nichts als eine Rolle Zeitungsausschnitte, die durch die Zeit bereits verschmutzt und vergilbt waren.
Ein Seufzer der Erleichterung entfuhr Alix. Nichtsdestoweniger las sie die Ausschnitte. Sie war neugierig, was Gerald so sehr interessiert hatte, daß er diese vergilbte Zeitungsrolle aufbewahrt hatte. Es waren fast alles amerikanische Zeitungen, beinahe sieben Jahre alt, die von einem notorischen Schwindler und Bigamisten, Charles Lemaitre, handelten. Lemaitre war verdächtigt, seine Frauen beiseite gebracht zu haben. Unter dem Fußboden in einem der Häuser, die er gemietet hatte, war ein Skelett gefunden worden, und die meisten Frauen, die er »geheiratet« hatte, waren wie vom Erdboden verschwunden.
Er hatte sich mit außerordentlicher Geschicklichkeit verteidigt und wurde dabei von einem der besten Anwälte der USA unterstützt. Das Urteil »Freispruch mangels Beweisen« mochte vielleicht diesen Fall am besten charakterisiert haben. Jedenfalls wurde er, was die Hauptanklage betraf, für nicht schuldig erklärt. Für andere Delikte, die ihm zur Last gelegt wurden, erhielt er eine längere Gefängnisstrafe.
Alix erinnerte sich an die Aufregung, die dieser Prozeß seinerzeit verursacht hatte, und auch an die Sensation, als es Lemaitre nach ungefähr drei Jahren gelungen war auszubrechen. Er wurde niemals wieder gefaßt. Die Persönlichkeit dieses Mannes und seine außergewöhnliche Macht über Frauen war ausführlich in der englischen Presse diskutiert worden. Auch seine Reizbarkeit vor Gericht, seine leidenschaftlichen Proteste und seine manchmal auftretenden physischen Zusammenbrüche, die er eines schwachen Herzens wegen erlitt, wurden eingehend besprochen.
In einem der Zeitungsausschnitte war ein Bild von ihm, und Alix betrachtete es mit Interesse. Ein Herr mit einem Vollbart, der etwas Schulmeisterliches an sich hatte.
An wen erinnerte sie dieses Gesicht nur? Plötzlich wurde es ihr mit Schrecken bewußt: an Gerald selbst. Seine und dieses Mannes Augen und Stirn hatten eine Ähnlichkeit, die nicht zu übersehen war. Vielleicht hatte er die Ausschnitte deswegen aufgehoben? Ihr Blick ging weiter zur Bildunterschrift. In dem Notizbuch des Angeklagten waren gewisse Daten gefunden worden, und man war überzeugt, daß es die Daten waren, an denen er seine Opfer umgebracht hatte. Und dann war da noch von einer Frau die Rede, die den Verhafteten durch die Tatsache identifiziert hatte, daß er am linken Handgelenk ein Muttermal hatte, genau über der Innenfläche seiner Hand.
Alix ließ das Papier zu Boden fallen. Sie schwankte. Ihr Mann hatte an der gleichen Stelle eine Narbe.
Später wunderte sie sich darüber, daß sie sofort so überzeugt gewesen war. Gerald Martin war Charles Lemaitre. Sie fühlte es. Nein, sie wußte es jetzt. Gedankenfetzen jagten durch ihr Gehirn wie Teile eines Puzzlespiels, die sich zusammenordneten. Das Geld für das Haus, ihr Geld. Die Pfandbriefe, die sie auf seinen Namen eingetragen hatte. Sogar ihr Traum erschien ihr in seiner wirklichen Bedeutung. Ihr Unterbewußtsein hatte sich immer vor Gerald gefürchtet und hatte versucht, sich von ihm freizumachen. Es war Dick Windyford gewesen, an den sich ihr Unterbewußtsein um Hilfe gewandt hatte. Das war es auch, weshalb sie die Wahrheit so schnell erkannt hatte. Ohne Zweifel sollte sie das nächste Opfer Lemaitres werden.