Ein dünner Schrei entrang sich ihren Lippen. Mittwoch um neun Uhr. Der Keller mit seinen Steinplatten, die man so leicht hochheben konnte! Schon einmal hatte er sein Opfer in einem Keller vergraben. Es war alles vorausgeplant gewesen für Mittwoch abend. Aber es noch niederzuschreiben - ein Wahnsinn!
Nein, es war ja logisch. Gerald machte sich stets Notizen über seine Verabredungen. Mord war für ihn ein Geschäft wie alles andere. Aber wie war sie nur davongekommen? Was hatte sie geschützt? In letzter Minute hatte er umdisponiert ...
Wie ein Blitz kam ihr die Antwort: der alte George!
Jetzt verstand sie den offenen Zorn ihres Mannes. Zweifellos hatte er sich den Weg geebnet, indem er jedem erzählt hatte, daß sie am nächsten Tag nach London fahren würden. Dann war George unerwartet zur Arbeit gekommen, hatte London ihr gegenüber erwähnt, und sie hatte die Geschichte richtiggestellt. Es war zu riskant gewesen, sie an diesem Abend zu beseitigen. Wenn sie diese triviale Geschichte nicht erwähnt hätte! Alix schauderte.
Aber sie hatte keine Zeit zu verlieren. Sie mußte gehen, bevor er zurückkam. Eilig legte sie die Zeitungsausschnitte in das Fach zurück und verschloß es. Dann stand sie bewegungslos da, wie zu einem Stein erstarrt. Sie hatte das Quietschen des Gartentors gehört. Ihr Mann war bereits zu Hause.
Einen Augenblick blieb sie starr vor Schreck, dann schlich sie auf Zehenspitzen ans Fenster, versteckte sich hinter den Gardinen und sah hinaus.
Ja, es war Gerald. Er lächelte und summte eine kleine Melodie. In seiner Hand hielt er etwas, das der entsetzten Frau das Herz stillstehen ließ: es war ein nagelneuer Spaten. Instinktiv kam Alix zu der Gewißheit, es würde heute abend sein.
Aber noch hatte sie eine Chance. Summend ging Gerald um das Haus herum zur Rückseite. Ohne einen Moment zu zögern, rannte sie die Treppe hinunter und aus dem Haus. Doch als sie gerade aus der Tür kam, erschien ihr Mann von der anderen Seite. »Hallo«, rief er. »Wohin läufst du so eilig?«
Alix bemühte sich verzweifelt, ruhig und unauffällig zu erscheinen. Ihre Chance war für den Augenblick verpatzt, aber wenn sie vorsichtig war und seinen Verdacht nicht erregte, konnte noch alles gutgehen.
»Ich wollte ein bißchen Spazierengehen«, sagte sie. Aber ihre Stimme war schwach und klang nicht überzeugend.
»Fein«, sagte Gerald, »ich komme mit.«
»Nein, bitte, Gerald. Ich bin nervös. Ich habe Kopfschmerzen und möchte lieber allein sein.«
Besorgt sah er sie an. Sie bildete sich sofort ein, daß in seinen Augen Verdacht aufglomm.
»Was ist los mit dir, Alix? Du bist blaß, und du zitterst ja.«
»Nichts.« Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Ich habe Kopfschmerzen, das ist alles. Ein wenig frische Luft wird mir guttun.«
»Aber es ist nicht schön von dir zu sagen, du möchtest mich nicht dabei haben«, erklärte Gerald mit einem leichten Lachen. »Ich gehe mit, ob du willst oder nicht.«
Sie wagte nicht, weiter zu protestieren. Falls er Verdacht schöpfte, daß sie wußte .
Mit Mühe gelang es ihr, sich unbefangen zu geben. Dennoch hatte sie das unbehagliche Gefühl, daß er sie von Zeit zu Zeit verstohlen betrachtete, wie wenn er nicht ganz zufrieden wäre.
Als sie nach Hause zurückkehrten, bestand er darauf, daß sie sich hinlegte. Er spielte, wie immer, den besorgten Ehemann, brachte Eau de Cologne und rieb ihr damit Stirn und Schläfen ein. Alix fühlte sich so hilflos, als wäre sie in eine Falle geraten.
Nicht eine Minute ließ er sie allein. Er ging mit ihr in die Küche und half ihr, die kalte Platte hereinzutragen, die sie schon vorbereitet hatte. Sie würgte die Bissen hinunter und zwang sich, fröhlich und natürlich zu wirken. Sie wußte jetzt, daß sie um ihr Leben kämpfte. Sie war allein mit diesem Mann, meilenweit von jeder Hilfe entfernt. Sie war absolut seiner Gnade ausgeliefert. Ihre einzige Chance lag darin, sein Mißtrauen einzuschläfern. Vielleicht ließ er sie ein paar Minuten allein, wenigstens so lange, daß sie in die Diele gehen und Hilfe herbeitelefonieren konnte. Das war jetzt ihre einzige Hoffnung.
Plötzlich erinnerte sie sich, daß er seinen Plan schon einmal geändert hatte. Angenommen, sie erzählte ihm, daß Dick Windyford heute abend kommen werde?
Die Worte lagen ihr schon auf der Zunge, aber sie schwieg. Diesen Mann konnte man ein zweites Mal nicht abhalten. Seine Entschlossenheit hatte etwas Beängstigendes an sich. Sie würde das Verbrechen nur noch beschleunigen. Wahrscheinlich würde er sie dann gleich umbringen und Dick Windyford anrufen, um ihm irgendeine Geschichte zu erzählen, die ihn entschuldigte.
Ach, wenn nur Dick Windyford heute abend käme!
Plötzlich hatte sie eine Idee. Sie blinzelte verstohlen zu ihrem Mann hinüber, als hätte sie Angst, daß er ihre Gedanken erraten könnte. Während sie sich ihren Plan zurechtlegte, schöpfte sie wieder Hoffnung. Sie benahm sich jetzt so ungezwungen und natürlich, daß sie sich selbst bewunderte. Sie machte Kaffee und trug ihn auf die Veranda hinaus, wo sie manchmal an schönen Abenden saßen.
»Übrigens«, sagte Gerald plötzlich, »ich möchte, daß du mir nachher hilfst, einige Fotoarbeiten zu erledigen.«
Alix spürte einen kalten Schauder ihren Rücken hinunterlaufen. Aber es gelang ihr, noch nonchalant zu fragen:
»Kannst du das nicht allein? Ich bin heute abend wirklich etwas müde.«
»Es wird nicht lange dauern.« Er lächelte maliziös. »Und ich kann dir versichern, daß du danach überhaupt nicht mehr müde sein wirst.«
Die Worte schienen ihn zu amüsieren. Alix zitterte. Jetzt oder nie war der Zeitpunkt gekommen, wo sie ihren Plan ausführen mußte. Sie erhob sich.
»Ich rufe nur rasch den Metzger an«, meinte sie leichthin.
»Den Metzger? Um diese Zeit?«
»Sein Geschäft ist natürlich geschlossen, Dummchen. Aber er ist sicher zu Hause. Morgen ist Sonnabend, und ich möchte, daß er mir ein paar Kalbskoteletts bringt, bevor sie mir jemand vor der Nase wegschnappt. Der gute Alte tut alles für mich.«
Rasch ging sie ins Haus und schloß die Tür hinter sich. Sie hörte, wie Gerald ihr nachrief: »Laß die Tür offen!«
»Ich will nicht, daß Nachtfalter hereinkommen«, sagte sie rasch. »Ich kann sie nicht ausstehen.« Dann fügte sie hinzu: »Hast du Angst, ich flirte mit dem Metzger, Dummerchen?«
Kaum drinnen, wählte sie die Nummer vom Gasthaus »Traveller's Arms«. Augenblicklich war die Verbindung hergestellt.
»Mr. Windyford, bitte. Ist er noch hier? Kann ich mit ihm sprechen?«
Dann blieb ihr Herz stehen. Die Tür wurde aufgestoßen, und ihr Mann kam in die Diele.
»Geh weg, Gerald«, sagte sie empfindlich, »ich mag nicht, wenn man mir beim Telefonieren zuhört.«
Er lachte nur und ließ sich auf einem Stuhl nieder.
»Ist das wirklich der Metzger, den du da anrufst?« fragte er spöttisch.
Alix war verzweifelt. Ihr Plan war schiefgegangen. Im nächsten Moment würde Dick Windyford an den Apparat kommen. Sollte sie es wagen und um Hilfe rufen?
Und dann, während sie nervös den kleinen Schlüssel am Apparat, mit dem man ein Gespräch beliebig unterbrechen konnte, hin und her drehte, fiel ihr ein anderer Plan ein.
Es wird schwierig sein, sagte sie sich. Es bedeutet, daß ich den Kopf nicht verliere, die richtigen Worte wähle und nicht stottere. Aber ich glaube, ich schaffe es. Ich muß es schaffen!
Und in diesem Augenblick hörte sie Dick Windyfords Stimme am anderen Ende der Leitung.
Alix holte tief Luft, dann drehte sie den Schlüssel und sprach.
»Hier ist Mrs. Martin, Haus Nachtigall. Bitte, kommen Sie« - sie drehte den Schlüssel um - »morgen früh mit sechs Koteletts«. Sie drehte den Schlüssel zurück. »Es ist sehr wichtig.« Wieder drehte sie den Schlüssel. »Vielen Dank, Mr. Hexworthy. Entschuldigen Sie, wenn ich so spät noch angerufen habe, aber die Koteletts sind wirklich« - wieder Drehen - »eine Sache von Leben und Tod.« Schlüsseldrehen. »Gut, morgen früh.« Schlüsseldrehen. »So schnell wie möglich.«