Nachdem Miss Lemon menschliche Schwächen und Leidenschaften auf diese Weise kategorisch abgetan hatte, ließ sie ihre Finger leicht auf den Maschinentasten ruhen, voller Ungeduld, endlich mit ihrer Arbeit beginnen zu können.
»Das ist Ihre Ansicht«, meinte Poirot. »Und in diesem Augenblick ist Ihr ganzes Verlangen darauf gerichtet, mit Ihrer Arbeit fortfahren zu dürfen. Aber Ihre Arbeit, Miss Lemon, besteht nicht nur darin, meine Korrespondenz zu erledigen, meine Briefe abzulegen und meine Telefongespräche entgegenzunehmen. All diese Dinge erledigen Sie in bewundernswerter Weise. Ich aber habe nicht nur mit Dokumenten zu tun, sondern auch mit menschlichen Wesen. Und dabei brauche ich ebenfalls Unterstützung.«
»Gewiß, Monsieur Poirot«, lautete die geduldige Erwiderung.
»Dieser Fall interessiert mich, und es würde mich freuen, wenn Sie die Berichte darüber in allen Morgenzeitungen und auch die späteren Berichte in den Abendzeitungen durchläsen und mir ein Resümee des Tatsachenbestandes anfertigten.«
»Sehr wohl, Monsieur Poirot.«
Poirot zog sich, wehmütig lächelnd, in sein Wohnzimmer zurück.
Zu gegebener Zeit erschien Miss Lemon bei ihm mit einem getippten Bericht.
»Ich habe hier die gewünschten Informationen, Monsieur Poirot. Allerdings befürchte ich, daß sie nicht als zuverlässig anzusehen sind. Die Zeitungsberichte weichen beträchtlich voneinander ab. Ich möchte den angegebenen Tatsachen nicht mehr als sechzig Prozent Genauigkeit zubilligen.« -.
»Das ist wahrscheinlich eine konservative Schätzung«, murmelte Poirot. »Vielen Dank, Miss Lemon, für die Mühe, die Sie sich gemacht haben.«
Der Tatsachenbestand war sensationell, aber ziemlich klar. Major Rich, ein wohlhabender Junggeselle, hatte einige seiner Freunde zu einer Abendgesellschaft in seine Wohnung geladen. Diese Freunde waren Mr. und Mrs. Clayton, Mr. und Mrs. Spence und Commander McLaren. Commander McLaren war mit Rich und den Claytons schon sehr lange befreundet.. Mr. und Mrs. Spence, ein jüngeres Ehepaar, waren ziemlich neue Bekannte. Arnold Clayton war im Schatzamt. Jeremy Spence war ein jüngerer Beamter der Zivilverwaltung. Major Rich war achtundvierzig. Arnold Clayton fünfundfünfzig, Commander McLaren sechsundvierzig und Jeremy Spence siebenunddreißig. Mrs. Clayton war, wie es hieß, »einige Jahre jünger als ihr Gatte«. Eine dieser Personen war nicht in der Lage, an der Abendgesellschaft teilzunehmen. Mr. Clayton wurde im letzten Augenblick wegen dringender Geschäfte nach Schottland gerufen, und es wurde angenommen, daß er mit dem Zuge um 20.15 Uhr vom Bahnhof King's Cross abgefahren sei.
Die Party verlief wie alle solche Veranstaltungen. Allen schien es gut zu gefallen. Man war weder ausgelassen noch betrunken und brach gegen Viertel vor zwölf Uhr auf. Die vier Gäste gingen zusammen fort und nahmen gemeinsam ein Taxi. Commander Mc-Laren wurde als erster bei seinem Klub abgesetzt. Dann brachten die Spences Margharita Clayton nach Cardigan Gardens abseits der Sloane Street und fuhren allein weiter zu ihrem Haus in Chelsea.
Die gruselige Entdeckung wurde am nächsten Morgen gemacht, und zwar von William Burgess, dem Diener des Major Rich, der außerhalb des Hauses wohnte. Er erschien sehr früh, um das Wohnzimmer aufzuräumen, ehe er Major Rich mit der frühmorgendlichen Tasse Tee weckte. Während Burgess mit seinen Arbeiten beschäftigt war, entdeckte er plötzlich mit Schrecken einen großen, häßlichen Fleck auf dem hellen Teppich, auf dem die spanische Truhe stand. Der Diener hob sofort den Deckel der Truhe und blickte hinein. Voller Entsetzen sah er darin die Leiche des Mr. Clayton, der offenbar erstochen worden war. Seinem ersten Impuls gehorchend, stürzte Burgess auf die Straße und holte den nächsten Polizisten.
Das waren die nackten Tatsachen. Aber es wurden noch weitere Einzelheiten erwähnt. Die Polizei hatte Mrs. Clayton sofort davon in Kenntnis gesetzt, und sie war »völlig niedergeschmettert«. Sie hatte ihren Mann am vorhergehenden Abend kurz nach sechs zum letztenmal gesehen. Er war verärgert nach Hause gekommen, da er in einer dringenden geschäftlichen Angelegenheit, die etwas mit einem seiner Besitztümer zu tun hatte, nach Schottland gerufen worden war, und hatte seine Frau gedrängt, ohne ihn an der Abendgesellschaft teilzunehmen. Mr. Clayton hatte dann seinen Klub aufgesucht, zu dem auch Commander McLaren gehörte, und bei einem Glas Whisky seinem Freund die Sachlage erklärt. Nach einem Blick auf seine Uhr hatte er dann geäußert, daß er auf seinem Wege nach King's Cross gerade noch Zeit habe, bei Major Rich vorzusprechen und ihm die Sache auseinanderzusetzen. Er hatte schon versucht, ihn telefonisch zu erreichen, aber keinen Anschluß bekommen.
Nach William Burgess' Aussage erschien Mr. Clayton gegen neunzehn Uhr fünfundfünfzig in der Etage. Major Rich war nicht zu Hause, mußte aber jeden Augenblick zurückkehren. Burgess schlug daher Mr. Clayton vor, einzutreten und zu warten. Clayton sagte, er habe keine Zeit, da er auf dem Wege zum Bahnhof sei, möchte aber gern ein paar Zeilen für Major Rich hinterlassen. Daraufhin führte ihn der Diener ins Wohnzimmer und ging selbst in die Küche zurück, wo er mit der Zubereitung von Appetithäppchen für die Party beschäftigt war. Der Diener hörte seinen Herrn nicht zurückkehren, aber etwa zehn Minuten später erschien Major Rich in der Küche und bat ihn, eiligst türkische Zigaretten zu besorgen, da sie von Mrs. Spence bevorzugt würden. Der Diener kam dieser Aufforderung nach und brachte die Zigaretten seinem Herrn ins Wohnzimmer. Mr. Clayton war nicht mehr da, und der Diener nahm natürlich an, daß er bereits fortgegangen sei, um seinen Zug zu erreichen.
Major Richs Schilderung war kurz und schlicht.
Mr. Clayton war nicht in der Wohnung, als er selbst zurückkehrte, und er hatte keine Ahnung, daß er dort gewesen war. Er hatte keine Zeilen vorgefunden und von Claytons Schottlandreise erst erfahren, als Mrs. Clayton und die anderen Gäste eintrafen.
Die Abendzeitungen brachten zwei weitere Notizen. Die »niedergeschmetterte« Mrs. Clayton hatte ihre Wohnung in Cardigan Gardens verlassen, und man nahm an, daß sie sich bei Freunden aufhalte.
Die andere Notiz erschien in der Rubrik »Letzte Meldungen«: Major Charles Rich war des Mordes an Arnold Clayton beschuldigt und in Untersuchungshaft genommen worden.
»Das war's also«, meinte Poirot und blickte zu Miss Lemon auf. »Die Verhaftung des Majors war zu erwarten. Aber was für ein merkwürdiger Fall! Ein sehr merkwürdiger Fall! Finden Sie nicht auch?«
»So etwas passiert ja wohl, Monsieur Poirot«, erwiderte Miss Lemon ohne besonderes Interesse.
»Oh, gewiß! So etwas passiert jeden Tag. Oder beinahe jeden Tag. Aber gewöhnlich sind derartige Vorkommnisse ganz verständlich- wenn auch betrüblich.«
»Es ist bestimmt eine sehr unangenehme Sache.«
»Erstochen und in eine spanische Truhe gesteckt zu werden, ist gewiß unangenehm für das Opfer - ganz entschieden. Aber wenn ich von einem merkwürdigen Fall spreche, so bezieht sich das auf das merkwürdige Verhalten des Majors Rich.«
Miss Lemon sagte in leicht mißfälligem Ton:
»Man scheint zu vermuten, daß Major Rich und Mrs. Clayton sehr eng befreundet waren ... Es war eine Andeutung und keine erwiesene Tatsache. Daher habe ich es in meinem Resümee nicht erwähnt.«
»Sehr richtig von Ihnen. Aber es ist eine Folgerung, die ins Auge springt. Ist das alles, was Sie zu sagen haben?«
Miss Lemon blickte ausdruckslos vor sich hin. Poirot dachte mit einem Seufzer an die lebhafte Phantasie seines Freundes Hastings. Die Diskussion eines Falles mit Mess Lemon war eine mühsame Arbeit.
»Betrachten wir einmal diesen Major Rich. Er ist in Mrs. Clayton verliebt - zugegeben ... Er will ihren Gatten beiseite schaffen - auch das räumen wir ein, obgleich man sich fragt: Wenn Mrs. Clayton in ihn verliebt ist und die beiden ein Verhältnis miteinander haben, warum pressiert's denn so? Will Mr. Clayton sich vielleicht nicht von seiner Frau scheiden lassen? Doch davon will ich nicht reden. Major Rich ist ein pensionierter Soldat, und manchmal heißt es, daß Soldaten nicht viel Grips haben. Aber, tout de meme, ist denn dieser Major Rich ein kompletter Idiot?«