Miss Lemon erwiderte nichts darauf. Sie hielt dies für eine rein rhetorische Frage.
»Nun«, fragte Poirot, »was halten Sie denn von der ganzen Geschichte?«
»Was ich davon halte?« wiederholte Miss Lemon erschrocken.
»Mais oui - Sie!«
Miss Lemon bemühte sich, der neuen Anforderung, die ihrem Verstand zugemutet wurde, gerecht zu werden. Sie erging sich nie in irgendwelchen Spekulationen, falls sie nicht direkt dazu aufgefordert wurde. Wenn sie einmal über einen müßigen Augenblick verfügte, beschäftigten sich ihre Gedanken mit den Einzelheiten eines überaus vollkommenen Ablegesystems. Das war ihre einzige geistige Ausschweifung.
»Nun ...« begann sie und brach ab.
»Erzählen Sie mir einfach, was nach Ihrer Ansicht an jenem Abend geschah. Mr. Clayton sitzt im Wohnzimmer und schreibt ein paar Zeilen. Major Rich kehrt zurück - was dann?«
»Er findet Mr. Clayton vor. Sie haben - ist jedenfalls anzunehmen - einen Wortwechsel, und Major Rich ersticht Mr. Clayton. Sobald er sieht, was er getan hat, verbirgt er die - die Leiche in der Truhe. Die Gäste konnten schließlich jeden Augenblick eintreffen.«
»Ja, ja. Die Gäste erscheinen! Die Leiche ist in der Truhe. Der Abend vergeht. Die Gäste brechen auf. Und dann?«
»Na, dann geht Major Rich vermutlich zu Bett und . Oh!«
»Aha«, sagte Poirot. »Jetzt geht Ihnen ein Licht auf. Sie haben einen Menschen ermordet und die Leiche in einer Truhe versteckt. Und dann - gehen Sie seelenruhig zu Bett, ohne sich von dem Gedanken stören zu lassen, daß Ihr Diener am nächsten Morgen das Verbrechen entdecken wird.«
»Vielleicht hat er nicht damit gerechnet, daß der Diener einen Blick in die Truhe werfen würde.«
»Trotz einer großen Blutlache auf dem Teppich?«
»Vielleicht ahnte Major Rich nichts von dem Fleck.«
»War es nicht reichlich nachlässig von ihm, sich nicht davon zu überzeugen?«
»Er war wohl etwas aufgeregt«, meinte Miss Lemon.
Poirot hob verzweifelt die Hände.
Miss Lemon benutzte die Gelegenheit, um sich eiligst aus dem Zimmer zu entfernen.
Das Geheimnis der spanischen Truhe ging Poirot, genaugenommen, nichts an. Er war im Augenblick mit einem delikaten Auftrag beschäftigt, den ihm eine der großen Ölgesellschaften erteilt hatte. Es handelte sich dabei um einen Mann in höherer Position, der möglicherweise an fragwürdigen Transaktionen beteiligt war. Eine streng vertrauliche, wichtige und höchst lukrative Aufgabe. Sie war genügend kompliziert, um Poirots Interesse zu fesseln, und hatte den großen Vorteil, daß sie sehr wenig physische Aktivität erforderte. Aber sie war nüchtern und appellierte nur an den Verstand. Verbrechen auf höchster Ebene.
Das Geheimnis der spanischen Truhe dagegen war hochdramatisch und mit Gefühlen durchsetzt; zwei Eigenschaften, vor denen er Hastings oft gewarnt hatte. In dieser Hinsicht war er mit ce eher Hastings sehr streng gewesen, und nun war er selbst, genau wie sein Freund, besessen von schönen Frauen, Verbrechen aus Leidenschaft, Eifersucht, Haß und allen anderen romantischen Mordursachen! Er wollte genau darüber Bescheid wissen. Er wollte in Erfahrung bringen, was für Menschen das waren, dieser Major Rich und sein Diener und Margharita Clayton (obgleich er über sie im Bilde zu sein glaubte), und der ermordete Arnold Clayton (denn seiner Ansicht nach war der Charakter des Opfers bei der Lösung eines Mordfalles von allergrößter Bedeutung), und sogar Commander McLaren, der treue Freund, und Mr. und Mrs. Spence, die kürzlich erworbenen Bekannten. Und er sah keine Möglichkeit, seine Neugierde zu befriedigen! Später am Tage kehrten seine Gedanken zu diesem Thema zurück.
Warum fesselte ihn eigentlich dieser Vorfall so sehr? Nach einiger Überlegung kam er zu dem Schluß, daß ihn das Problem so reizte, weil das Ganze im Hinblick auf die Beziehung der Tatsachen zueinander eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit war!
Er überflog noch einmal die akzeptierbaren Tatsachen.
Zunächst ein Wortwechsel zwischen zwei Männern. Ursache vermutlich eine Frau. Im Eifer des Gefechts brachte der eine den anderen um. Ja, das kam vor - obwohl es einleuchtender wäre, wenn der Ehemann den Liebhaber beseitigt hätte. Immerhin - der Liebhaber hatte den Ehemann getötet, ihn mit einem Dolch erstochen - irgendwie eine ziemlich unwahrscheinliche Waffe. Hatte Major Rich vielleicht eine italienische Mutter gehabt? Sicherlich mußte irgendwo eine Erklärung für die Wahl eines Dolches als Waffe existieren. Jedenfalls mußte man den Dolch akzeptieren (in manchen Zeitungen wurde er als Stilett bezeichnet). Er war eben zur Hand und wurde benutzt. Die Leiche wurde dann in der Truhe versteckt. Das war gesunder Menschenverstand und unvermeidlich. Das Verbrechen war nicht vorausgeplant, und da der Diener jeden Augenblick zurückkehren konnte und vier Gäste in Kürze eintrafen, schien es die einzige Möglichkeit zu sein.
Die Party steigt und geht zu Ende, die Gäste brechen auf -der Diener ist bereits fort - und Major Rich geht zu Bett!
Um das zu verstehen, mußte man Major Rich sehen und ausfindig machen, was für ein Mensch so handeln kann.
Hatte er vielleicht, überwältigt von dem Entsetzen über seine Tat und von der großen Anstrengung, den langen Abend hindurch natürlich zu erscheinen, eine Schlaftablette genommen, die ihn in einen so tiefen Schlummer versetzte, daß er nicht um die gewohnte Zeit wach wurde? Möglich. Oder aber handelte es sich um das psychologische Phänomen, daß das Schuldgefühl in Major Richs Unterbewußtsein das Verlangen nach Aufdeckung des Verbrechens erweckte? Um in dieser Hinsicht zu einer Entscheidung zu gelangen, war es unbedingt erforderlich, Major Rich kennenzulernen. Es ließ sich alles zurückführen auf - Das Telefon läutete. Poirot ließ es eine Weile klingeln, bis es ihm dämmerte, daß Miss Lemon bereits nach Hause gegangen war. Also nahm er den Hörer ab.
»Monsieur Poirot?«
»Am Apparat.«
»Oh, wie herrlich!« Poirot war ein wenig erstaunt über die Glut in der bezaubernden weiblichen Stimme. »Hier ist Abbie Chatterton.« - »Ach, Lady Chatterton. Was kann ich für Sie tun?«
»Kommen Sie so rasch wie möglich zu einer absolut schauderhaften Cocktail-Party, die ich gebe. Nicht gerade wegen der Cocktail-Party - sondern wegen einer ganz anderen Geschichte. Bitte, bitte, lassen Sie mich nicht im Stich! Sagen Sie bloß nicht, daß Sie es nicht einrichten können.«
Poirot hatte nicht die geringste Absicht gehabt, die Einladung abzulehnen. Lord Chatterton war, abgesehen von seiner Peerswürde und der Tatsache, daß er gelegentlich eine langweilige Rede im Oberhaus hielt, keine bemerkenswerte Persönlichkeit. Doch Lady Chatterton war einer der strahlendsten Sterne am Himmel der hohen Gesellschaft. Alles, was sie tat oder sagte, war ein Ereignis. Sie besaß Verstand, Schönheit, Originalität und genug Energie, um eine Rakete zum Mond zu befördern.
Sie sagte nochmals:
»Ich brauche Sie. Zwirbeln Sie einfach Ihren wundervollen Schnurrbart mit kühnem Schwung, und kommen Sie!«
Ganz so rasch ging es allerdings nicht. Zunächst einmal machte Poirot aufs sorgfältigste Toilette. Dann erst zwirbelte er seinen Schnurrbart und machte sich auf den Weg.
Die Tür zu Lady Chattertons bezauberndem Haus in der Cheriton Street war angelehnt, und aus dem Innern drang ein Geräusch, das einer Meuterei im Zoo glich. Lady Chatterton führte gerade eine geschickte Unterhaltung mit zwei Gesandten, einem internationalen Fußballspieler und einem amerikanischen Evangelisten. Aber mit der Schnelligkeit eines Taschenspielers warf sie diese Leute über Bord, als Poirot eintrat, und eilte zu ihm.