»Ich habe nicht gesagt, jetzt. Ich sagte, irgendwann. Wenn das erforderliche Motiv auftaucht.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, wie Sie das verhindern wollen«, sagte Haydock.
»Ich auch nicht«, entgegnete Evans kleinlaut.
»Meiner Meinung nach sollte man die Sache auf sich beruhen lassen. Es ist noch nie etwas dabei herausgekommen, in anderer Leute Angelegenheiten herumzustochern«, brummte der Kapitän.
Dieser Rat war nicht nach dem Geschmack des Inspektors. Er war ein Mann der Geduld, aber auch des Entschlusses. Er verabschiedete sich von seinem Freund und schlenderte hinunter ins Dorf. In Gedanken erwog er die Möglichkeiten, ein eventuelles Verbrechen zu verhindern.
Als er in das Postamt trat, um einige Briefmarken zu kaufen, stieß er ausgerechnet mit George Merrowdene zusammen. Der ehemalige Chemieprofessor war ein kleiner, verträumt aussehender Mann, höflich und gütig in seiner Art, aber gewöhnlich mit seinen Gedanken woanders. Er erkannte Evans und begrüßte ihn freundlich. Dann bückte er sich, um die Briefe aufzusammeln, die durch den Zusammenstoß zu Boden gefallen waren. Evans war ihm behilflich und schielte dabei auf die Briefe. Die Adresse auf dem einen Umschlag verstärkte seinen Verdacht aufs neue. Er trug den Namen einer bekannten Versicherungsgesellschaft. Sofort stand sein Entschluß fest.
Der arglose Merrowdene bemerkte kaum, wie es kam, daß er nun zusammen mit dem Inspektor durch das Dorf ging, und noch weniger hätte er sagen können, weshalb er plötzlich von seiner Lebensversicherung sprach. Evans hatte keine Mühe, ihn für sich zu gewinnen. Merrowdene gab bereitwilligst Auskunft, daß er gerade sein Leben zugunsten seiner Frau versichert habe, und fragte nach Evans' Meinung über die Firma, mit der er abgeschlossen hatte.
»Ich habe schon manch eine unüberlegte Investition gemacht«, erklärte er, »mit dem Resultat, daß mein Vermögen zusammengeschrumpft ist. Sollte mir etwas passieren, wäre meine Frau schlecht daran. Diese Versicherung soll das verhindern.«
»Hat sie gegen diese Idee keinen Einspruch erhoben?« erkundigte sich Evans beiläufig. »Manche Frauen tun das, wissen Sie. Sie meinen, es brächte Unglück oder so etwas.«
»Ach, Margaret ist sehr praktisch«, entgegnete Merrowdene lächelnd. »Überhaupt nicht abergläubisch. Ich glaube, es war sogar ursprünglich ihre eigene Idee. Sie wollte nicht, daß ich mir Sorgen mache.«
Evans hatte die Information, die er wollte. Er verließ den Professor kurz darauf. Sein Gesicht spiegelte grimmige Entschlossenheit wider. - Der verstorbene Mr. Anthony hatte auch eine Lebensversicherung zugunsten seiner Frau abgeschlossen - gerade ein paar Wochen vor seinem Tode.
Für ihn gab es keinen Zweifel mehr. Aber was er unternehmen konnte, stand auf einem anderen Blatt. Er wollte keinen auf frischer Tat ertappten Verbrecher verhaften, sondern ein Verbrechen verhindern. Und das war etwas ganz anderes und viel schwieriger.
Den ganzen Tag über war er sehr nachdenklich. Am Nachmittag gab der Primelzüchterverein ein Fest auf dem Besitz des örtlichen Gutsherrn, und er ging hin. Er spielte beim »Penny dip«, einer Art Lotterie, mit und warf mit Bällen nach leeren Blechdosen. In Gedanken aber war er ständig bei seinem Problem. Er ließ sich sogar von Sarah, der Wahrsagerin, für eine halbe Krone die Zukunft deuten und mußte über sich selbst lächeln, als er sich erinnerte, wie er während seiner Amtszeit gegen diese Wahrsager vorgegangen war.
Er war nicht so richtig bei der Sache, bis das Ende eines Satzes seine Aufmerksamkeit erregte.
»... und Sie werden in Kürze, in allernächster Kürze in einer Sache stecken, bei der es um Tod oder Leben geht ...
Leben oder Tod eines Menschen.«
»Ha? Wie war das?« fragte er.
»Einen Beschluß. Sie werden einen Beschluß zu fassen haben. Sie müssen sehr vorsichtig sein, sehr, sehr vorsichtig. Wenn Sie einen Fehler machen, den kleinsten Fehler auch nur .«
Die Wahrsagerin erschauderte. Inspektor Evans wußte, daß das alles Unsinn war, trotzdem war er beeindruckt.
»Ich warne Sie. Sie dürfen keinen Fehler machen. Wenn Sie es doch tun, sehe ich die Folge ganz klar - den Tod.«
Komisch, verflixt komisch. Tod. Daß ihre Phantasie sie darauf gebracht hatte!
»Wenn ich einen Fehler mache, wird es einen Todesfall zur Folge haben? Ist es so?«
»Ja.«
»Aus diesem Grunde«, meinte Evans trocken und reichte ihr das Geldstück hinüber, »darf ich also keinen Fehler machen, was?«
Er sprach zwar unbekümmert, als er das Zelt verließ, aber er war fest entschlossen aufzupassen. Leichter gesagt als getan! Er durfte keinen Schnitzer machen. Ein Leben, ein kostbares menschliches Leben hing davon ab. Und niemand war da, der ihm helfen konnte.
Er blickte hinüber zu seinem Freund Haydock, der in einiger Entfernung stand. Von ihm konnte er keine Hilfe erwarten.
»Laß die Dinge auf sich beruhen«, war Haydocks Devise.
Haydock unterhielt sich mit einer Frau. Sie verabschiedete sich jetzt von ihm und kam auf Evans zu. Der Inspektor erkannte sie. Es war Mrs. Merrowdene. Impulsiv stellte er sich ihr genau in den Weg.
Mrs. Merrowdene war eine sehr gut aussehende Frau. Sie hatte eine breite, gerade Stirn und einen sanften Gesichtsausdruck. Mit ihren wunderschönen braunen Augen glich sie einer italienischen Madonna, und das unterstrich sie noch dadurch, daß sie ihr Haar in der Mitte gescheitelt trug. Ihre Stimme war warm und dunkel.
Sie lächelte Evans zu.
»Ich dachte mir doch, daß Sie es waren, Mrs. Anthony -ich meine, Mrs. Merrowdene«, sagte er hintergründig.
Diesen Fehler hatte er absichtlich gemacht, und er beobachtete sie dabei, ohne es sich anmerken zu lassen. Er sah, wie sich ihre Augen weiteten und wie sie kurz den Atem anhielt. Aber sie zuckte mit keiner Wimper. Sie betrachtete ihn würdevoll.
»Ich suche meinen Mann«, sagte sie ruhig. »Haben Sie ihn irgendwo gesehen?«
»Er war dort drüben, als ich ihn zuletzt sah.«
Sie gingen Seite an Seite in der bezeichneten Richtung und plauderten. Der Inspektor fühlte, wie seine Bewunderung wuchs. Welch eine Frau! Diese Selbstbeherrschung! Dieses wunderbare Gleichgewicht! Ein bemerkenswerter Mensch -und sehr gefährlich.
Er fühlte sich unbehaglich, obgleich er mit seinem ersten Schritt zufrieden war. Er hatte sie wissen lassen, daß er sie erkannt hatte. Sie würde auf der Hut sein und es nicht wagen, irgend etwas Übereiltes zu tun. Blieb noch Merrowdene. Wenn man ihn warnen könnte!
Sie fanden den kleinen Mann, wie er abwesend eine Porzellanpuppe betrachtete, die er gewonnen hatte. Seine Frau schlug vor, nach Hause zu gehen, und er stimmte freudig zu. Mrs. Merrowdene wandte sich an den Inspektor.
»Wollen Sie nicht mit uns kommen und gemütlich eine
Tasse Tee trinken, Mr. Evans?«
Lag da nicht ein leichter Ton von Herausforderung in ihrer Stimme? Er meinte, ihn bemerkt zu haben.
»Vielen Dank, Mrs. Merrowdene. Gern.«
Auf dem Weg unterhielten sie sich über alltägliche Dinge. Die Sonne schien, und ein leichter Wind wehte. Die Welt schien ruhig und friedlich.
Ihr Hausmädchen sei auch bei dem Fest, erklärte Mrs. Merrowdene, als sie in dem hübschen Landhaus ankamen. Sie ging in ihr Zimmer, um ihren Hut abzusetzen. Dann kam sie zurück und begann den Tee bereitzustellen. Auf einem kleinen silbernen Kocher brachte sie Wasser zurrt Sieden. Aus einem Fach neben dem Kamin nahm sie drei hauchdünne Schalen und Untertassen.
»Wir haben einen ganz speziellen chinesischen Tee«, sagte sie. »Und wir trinken ihn immer auf chinesische Weise, aus Schalen, nicht aus Tassen.«
Sie brach ab, blickte in eine der Schalen und tauschte sie mit einem Ausdruck von Verärgerung gegen eine andere aus.
»George, das ist nicht nett von dir. Du hast schon wieder eine dieser Schalen benutzt«, schalt sie ihren Mann.
»Es tut mir leid, Liebes«, antwortete der Professor entschuldigend. »Sie haben eine so brauchbare Größe. Die anderen, die ich bestellt habe, sind noch nicht angekommen.«