Als McLaren Margharitas Zeilen gelesen hatte, sagte er fast zögernd:
»Nun, wenn Margherita wünscht, daß ich Ihnen alles erzählen soll, was ich weiß, werde ich das natürlich tun. Weiß zwar nicht, was es noch zu erzählen gibt. Sie haben doch sicher schon alles gehört. Aber ganz wie Margharita es wünscht. Ich habe ihr stets den Willen getan - schon seit ihrem sechzehnten Lebensjahr. Sie hat so etwas an sich, wissen Sie.«
»Ich weiß«, bestätigte Poirot und fuhr fort: »Zunächst einmal möchte ich, daß Sie mir eine Frage ganz offen beantworten. Halten Sie Major Rich für schuldig?«
»Ja, entschieden. Ich würde es Margharita nicht sagen, wenn sie ihn unbedingt für unschuldig halten will. Aber ich sehe keine andere Möglichkeit. Zum Teufel, der Mann muß schuldig sein.«
»Gab es zwischen ihm und Mr. Clayton irgendeine Unstimmigkeit?« »Nein, durchaus nicht. Arnold und Charles waren die besten Freunde. Deshalb wirkt das Ganze ja so phantastisch.«
»Vielleicht hatte Major Richs Freundschaft mit Mrs. Clayton -«
Er wurde unterbrochen.
»Pfui! Dieses Gewäsch! Alle Zeitungen weisen versteckt darauf hin. Verdammte Anspielungen! Mrs. Clayton und Rich waren gute Freunde und weiter nichts! Margharita hat viele Freunde. Ich bin ihr Freund. Schon seit Jahren. Und es ist nichts zwischen uns vorgefallen, was nicht die ganze Welt wissen könnte. Genauso verhält es sich mit Charles und Margharita.«
»Sie sind also nicht der Ansicht, daß sie ein Verhältnis miteinander hatten?«
»Aber ganz gewiß nicht!« stieß McLaren zornig hervor. »Hören Sie bloß nicht auf diese Spence, diese Giftnudel. Die schwatzt Unsinn über Unsinn.«
»Aber vielleicht hat Mr. Clayton Verdacht geschöpft und angenommen, es bestehe ein Verhältnis zwischen seiner Frau und Major Rich.«
»Ich kann Ihnen versichern, daß dies nicht stimmt. Sonst hätte ich davon gewußt; Arnold und ich waren sehr eng befreundet.«
»Was für ein Mann war Mr. Clayton eigentlich? Das müßten Sie doch in erster Linie wissen.«
»Nun, Arnold war ein ruhiger Mensch. Aber klug -geradezu glänzend, glaube ich. Fabelhafter Kopf für Finanzen. Er bekleidete einen ziemlich hohen Posten im Schatzamt.«
»Das habe ich gehört.«
»Er war sehr belesen und sammelte Marken. Er hatte eine große Vorliebe für Musik. Aber er tanzte nicht und ging abends nicht gern aus.«
»War es Ihrer Ansicht nach eine glückliche Ehe?«
Commander McLaren beantwortete diese Frage nicht sofort.
»So etwas ist sehr schwer zu sagen. Ja, ich glaube, sie waren glücklich. In seiner ruhigen Art war er ihr ergeben, und ich bin überzeugt, daß sie ihn gern mochte. Eine Trennung war sehr unwahrscheinlich, falls Sie daran gedacht haben sollten. Sie hatten allerdings nicht viele gemeinsame Interessen.«
Poirot nickte. Das war anscheinend alles, was er aus ihm herausbekommen konnte.
Er sagte: »Nun erzählen Sie mir noch etwas von dem letzten Abend. Mr. Clayton speiste mit Ihnen im Klub. Was hat er da gesagt?«
»Er sagte mir, daß er nach Schottland fahren müsse. Schien sehr ärgerlich darüber zu sein. Wir aßen übrigens nicht zu Abend. Keine Zeit. Nur belegte Brote und einen Drink. Das heißt, für ihn. Ich hatte nur den Drink, da ich ja zu einem kalten Souper eingeladen war.«
»Erwähnte Mr. Clayton ein Telegramm?«
»Ja.«
»Hat er es Ihnen eigentlich gezeigt?«
»Nein.«
»Erwähnte er, daß er bei Rich vorsprechen wolle?«
»Nicht definitiv. Er wußte nicht, ob die Zeit dazu reichen würde, und meinte: >Margharita kann es erklären, oder auch du.< Dann fügte er hinzu: >Sorge dafür, daß sie gut nach Hause kommt.< Dann ging er fort. Es war alles ganz natürlich und ungezwungen.« »Und er hegte keinen Verdacht, daß das Telegramm nicht echt sei?«
»War es das etwa nicht?« Commander McLaren blickte bestürzt drein.
»Anscheinend nicht.«
»Wie merkwürdig ...« Commander McLaren versank in eine Art Trance, aus der er plötzlich emportauchte mit den Worten:
»Aber das ist tatsächlich seltsam. Ich meine, was ist der Sinn der Sache? Warum sollte ihn jemand nach Schottland schicken wollen?«
»Es ist eine Frage, die unbedingt eine Antwort verlangt.«
Hercule Poirot brach auf und ließ den Commander offenbar in einer tiefen Grübelei zurück.
Die Spences lebten in einem winzigen Haus in Chelsea.
Linda Spence empfing Poirot voller Begeisterung.
»Sie müssen mir alles erzählen«, sagte sie. »Alles von Margharita! Wo steckt sie?«
»Das darf ich Ihnen leider nicht verraten, Madame.«
»Sie hat sich tatsächlich gut versteckt. So etwas versteht Margharita vorzüglich. Aber bei der Verhandlung muß sie doch wohl als Zeugin erscheinen, nicht wahr? Davor kann sie sich nicht drücken.«
Poirot ließ abschätzend seine Blicke über sie gleiten und mußte widerwillig gestehen, daß sie im modernen Stil attraktiv war. Es war kein Typ, den er bewunderte. Das kunstvoll zerzauste Haar hing ihr wirr um den Kopf, und ein Paar scharfsinnige Augen beobachteten ihn aus einem leicht schmuddeligen Gesicht, das, abgesehen von dem lebhaften Cerise ihres Mundes, keinerlei Make-up zeigte. Sie trug einen enormen hellgelben Pullover, der fast bis zu den Knien herabhing, und enge schwarze Hosen.
»Was für eine Rolle spielen Sie in dieser Angelegenheit?« wollte Mrs. Spence wissen. »Sollen Sie um jeden Preis den Freund aus der Patsche ziehen? Ist das die Idee? Welcher Optimismus!«
»Dann halten Sie ihn also für schuldig?«
»Natürlich. Wer sollte es sonst sein?«
Das, dachte Poirot, ist die große Frage. Er parierte sie mit einer anderen. »Wie erschien Ihnen Major Rich an jenem fatalen Abend? Wie üblich? Oder anders?«
Linda Spence kniff kritisch die Augen zusammen.
»Nein, er war nicht wie sonst. Er war - anders.«
»Inwiefern?«
»Aber, Monsieur Poirot, wenn man gerade jemanden kaltblütig erstochen hat -«
»Aber Sie wußten zu der Zeit nicht, daß er gerade jemanden kaltblütig erstochen hatte, nicht wahr?«
»Nein, selbstverständlich nicht.«
»Wie haben Sie sich dann also sein >Anderssein< erklärt? Wie äußerte es sich überhaupt?«
»Nun, er war zerstreut. Ach, ich weiß es nicht. Aber als ich hinterher darüber nachdachte, kam ich zu dem Schluß, daß ganz entschieden etwas nicht in Ordnung war.«
»Wer traf zuerst ein?«
»Wir - Jim und ich. Dann kam Jock. Und schließlich Margharita.«
»Wann wurde Mr. Claytons Abreise nach Schottland zum erstenmal erwähnt?«
»Als Margharita kam. Sie sagte zu Charles: >Arnold läßt sich vielmals entschuldigen. Aber er mußte eilig mit dem
Nachtzug nach Edinburgh fahren.< Und Charles erwiderte: >Oh, das ist ja sehr bedauerlich.< Jock fügte hinzu: >Verzeihung, daß ich es nicht erwähnt habe. Aber ich dachte, du wüßtest es bereits. < Und dann hatten wir alle einen Drink.«
»Hat Major Rich überhaupt nicht erwähnt, daß er Mr. Clayton an dem Abend gesehen habe? Hat er nichts davon gesagt, daß er auf dem Wege zum Bahnhof bei ihm vorbeigekommen sei?«
»Ich habe nichts davon gehört.«
»Die Geschichte mit dem Telegramm war merkwürdig, nicht wahr?«
»Wieso?«
»Es war ein Schwindel. In Edinburgh weiß niemand etwas davon.«
»Aha! Ich wunderte mich damals schon im stillen.«
»Sie haben sich bei dem Telegramm etwas gedacht?«
»Na, es springt einem doch geradezu ins Auge.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Mein lieber Monsieur Poirot«, sagte Linda. »Spielen Sie doch nicht den Unschuldigen! Unbekannter Spaßvogel schafft den Ehemann aus dem Wege! Für diese Nacht jedenfalls ist die Luft rein.«