Poirot betrachtete den Mann nachdenklich. Die schauspielerische Leistung - wenn es eine war - war sehr gut. Aber er fürchtete allmählich, daß es sich nicht um eine schauspielerische Leistung handelte, sondern daß sich alles genauso zugetragen hatte.
»Sie haben wohl nicht daran gedacht, zunächst einmal Major Rich zu wecken?« fragte er.
»Es ist mir überhaupt nicht eingefallen, Sir. Bei dem Schock. Ich ich wollte nur von hier fort« - er schluckte krampfhaft - »und Hilfe holen.«
Poirot nickte.
»Haben Sie sich vergegenwärtigt, daß es Mr. Clayton war?«
»Das hätte man eigentlich erwarten sollen, Sir, aber ich glaube nicht, daß es mir zunächst zum Bewußtsein kam. Sobald ich mit dem Polizisten zurückkehrte, sagte ich natürlich sofort: >Das ist ja Mr. Clayton!< Und er fragte: >Wer ist Mr. Clayton?< Und ich sagte: >Er war gestern abend hier.<«
»Aha«, sagte Poirot, »gestern abend . Können Sie sich noch erinnern, um welche Zeit Mr. Clayton hier eintraf?«
»Nicht auf die Minute, aber ich möchte sagen, so gegen ein Viertel vor acht.«
»Haben Sie ihn gut gekannt?«
»Er und Mrs. Clayton waren hier häufig zu Gast in den anderthalb Jahren, die ich hier beschäftigt war.«
»Machte er denselben Eindruck wie immer?«
»Ich glaube wohl. Ein wenig außer Atem; aber das schob ich darauf, daß er es sehr eilig hatte. Er wollte einen Zug erreichen, wie er sagte.«
»Er hatte sicher einen Koffer bei sich, da er doch nach Schottland fahren wollte.«
»Nein, Sir. Wahrscheinlich hat er ein Taxi unten gehabt.«
»War er enttäuscht, daß Major Rich nicht zu Hause war?«
»Es war ihm nicht anzumerken. Er sagte nur, er wolle ein paar Zeilen schreiben. Er kam hier ins Zimmer und ging zum Schreibtisch, während ich in die Küche zurückkehrte. Ich war mit den Sardelleneiern etwas im Rückstand. Die Küche liegt am Ende des Ganges, und dort hört man nicht viel. Ich habe nicht gehört, daß er fortging oder daß mein Herr zurückkam - und habe auch nicht darauf geachtet.«
»Und was geschah dann?«
»Major Rich rief mich. Er stand dort in der Tür und sagte, er habe die türkischen Zigaretten für Mrs. Spence vergessen. Er bat mich, eiligst welche zu besorgen. Das tat ich dann auch und legte sie hier auf den Tisch. Natürlich nahm ich auch an, daß Mr. Clayton inzwischen fortgegangen sei, um seinen Zug zu erreichen.«
»Und sonst ist niemand in die Wohnung gekommen, während Major Rich nicht zu Hause war und Sie sich in der Küche aufhielten?«
»Nein, Sir, niemand.«
»Können Sie das mit Sicherheit behaupten?«
»Wie wäre es denn möglich, Sir? Der Betreffende hätte doch klingeln müssen.«
Poirot schüttelte den Kopf. Wie wäre es auch möglich gewesen? Die Spences und McLaren und auch Mrs. Clayton konnten, das wußte er bereits, über jede Minute ihrer Zeit Rechenschaft ablegen. McLaren war mit Bekannten im Klub gewesen. Die Spences hatten vor dem Aufbruch ein paar Freunde zu einem Drink bei sich gehabt. Margharita Clayton hatte um die Zeit gerade mit einer Freundin telefoniert. Ganz abgesehen davon, daß er niemand von ihnen als Täter in Betracht zog. Um Arnold zu töten, hätten sie wohl bessere Möglichkeiten gehabt, als ihm in die Wohnung des Majors zu folgen, wo ein Diener beschäftigt war und der Hausherr jeden Augenblick zurückkehren konnte. Nein, er hatte als letzte schwache Hoffnung mit einem »mysteriösen Fremden« gerechnet! Mit jemandem aus Claytons anscheinend untadeliger Vergangenheit, der ihn auf der Straße erkannt hatte und ihm hierher gefolgt war, ihn dann mit dem Stilett erstochen, die Leiche in die Truhe gesteckt und die Flucht ergriffen hatte. Das reinste Melodrama aus einem romantischen historischen Roman ohne jede Beziehung zu Vernunft und Wahrscheinlichkeit, das aber ganz gut zu der spanischen Truhe paßte.
Er durchquerte abermals den Raum und trat an die Truhe. Er hob den Deckel, der sich leicht und geräuschlos öffnen ließ.
Mit schwacher Stimme sagte Burgess: »Sie ist gut gesäubert worden. Dafür habe ich gesorgt.«
Poirot beugte sich über die Truhe. Mit einem leisen Ausruf beugte er sich noch tiefer. Seine Finger tasteten die Innenwände ab.
»Diese Löcher hier - an der Rückwand und an einer Seite - sie sehen so aus - sie fühlen sich so an, als ob sie ganz kürzlich gemacht worden wären.«
»Löcher, Sir?« Der Diener trat erstaunt an die Truhe. »Sie sind mir noch gar nicht aufgefallen.«
»Sie springen nicht gerade ins Auge, sind aber vorhanden. Welchen Zweck haben sie wohl? Was meinen Sie?«
»Ich wüßte es wirklich nicht, Sir. Vielleicht stammen sie von einem Tier - ich meine, von irgendeinem Käfer, der Holz nagt.«
»Ein Tier?« meinte Poirot. »Das sollte mich doch wundern.«
Er begab sich wieder an das andere Ende des Zimmers.
»Als Sie mit den Zigaretten ins Zimmer kamen, waren die Möbel da irgendwie anders arrangiert? Der Tisch, die Stühle oder dergleichen?«
»Es ist merkwürdig, daß Sie das sagen, Sir ... Jetzt, wo Sie es erwähnen, fällt es mir wieder ein. Der Schirm dort, der den Zug von der Schlafzimmertür her auffängt, war ein wenig mehr nach links verschoben.«
»Etwa so?« Poirot stand plötzlich am Schirm und rückte ihn.
»Noch ein wenig mehr ... Ja, so ist's richtig.«
Der Schirm, der bis dahin die Truhe schon halb verdeckt hatte, verbarg sie nun fast vollständig. »Haben Sie sich Gedanken darüber gemacht, warum er verschoben wurde?«
»Ich habe mir nichts dabei gedacht, Sir.« Burgess fügte unsicher hinzu: »Vielleicht war der Weg ins Schlafzimmer dann nicht so behindert - falls die Damen ihre Mäntel dort ablegen wollten.«
»Vielleicht. Aber es könnte noch einen anderen Grund geben. Der Schirm verdeckt jetzt die Truhe und den Teppich bei der Truhe. Wenn Major Rich Mr. Clayton erstochen hatte, mußte das Blut durch die Ritzen der Truhe sickern. Das hätte jemand bemerken können - wie Sie am nächsten Morgen. Also wurde der Schirm verschoben.«
»Auf den Gedanken wäre ich nie gekommen, Sir.«
»Wie ist die Beleuchtung in diesem Zimmer, kräftig oder schwach?«
»Das will ich Ihnen gleich zeigen, Sir.«
Rasch zog der Diener die Vorhänge vor und knipste ein paar Lampen an, die ein weiches, mildes Licht gaben, kaum stark genug, um dabei zu lesen. Poirot warf einen Blick auf die Deckenbeleuchtung.
»Die Lampe an der Decke brannte nicht, Sir. Sie wird wenig benutzt.«
Poirot hielt in der gedämpften Beleuchtung Umschau.
Der Diener sagte:
»Ich glaube nicht, daß der Blutfleck zu sehen gewesen wäre, Sir, es ist zu trübe.«
»Ich denke, Sie haben recht. Warum ist dann nur der Schirm verschoben worden?«
Burgess erschauerte.
»Ein schrecklicher Gedanke - daß ein so netter Mann wie Major Rich eine solche Tat vollbringen konnte.«
»Sie zweifeln also nicht daran, daß er es getan hat? Warum hat er diese Tat begangen, Burgess?«
»Nun, er hat natürlich den Krieg mitgemacht. Vielleicht hatte er eine Kopfverletzung, nicht wahr? Es heißt ja, daß solche Verletzungen sich oft nach Jahren wieder bemerkbar machen. Die Menschen werden plötzlich wunderlich und wissen nicht, was sie tun. Und man sagt ja, daß sie oft auf die losgehen, die ihnen am nächsten und teuersten sind. Glauben Sie, daß es so gewesen sein könnte?«
Poirot blickte ihn an und wandte sich seufzend ab.
»Nein«, entgegnete er, »so war es nicht.«
Eine knisternde Banknote wurde mit dem Geschick eines Taschenspielers Burgess in die Hand geschoben. »Oh, vielen Dank, Sir, aber das kann ich doch nicht annehmen.«
»Sie haben mir geholfen«, erklärte Poirot, »indem Sie mir dieses Zimmer zeigten und alles, was in dem Zimmer ist. Indem Sie mir zeigten, was an jenem Abend vor sich ging. Das Unmögliche ist nie unmöglich! Denken Sie daran. Ich sprach nur von zwei Möglichkeiten - das war falsch. Es gibt eine dritte Möglichkeit.« Er blickte er noch einmal im Zimmer umher und schauderte ein wenig.