»Ich? Nein, wirklich nicht.«
Ihre Überraschung war so echt, daß Jack seine Frage peinlich war. Ihre Stimme war weich und klang mit einem leichten ausländischen Akzent sehr reizvoll.
»Aber Sie müssen es gehört haben!« rief er aus. »Es kam von irgendwo hier in der Nähe.«
Sie sah ihn verwundert an. »Ich habe überhaupt nichts gehört.«
Jetzt starte Jack sie an. Es war völlig unmöglich, daß sie diesen gequälten Hilferuf nicht gehört hatte. Und doch strahlte sie eine solche Ruhe aus, daß er nicht glauben konnte, daß sie ihn anlog.
»Was wurde denn gerufen?« fragte sie.
»Mord, Hilfe, Mord!«
»Mord, Hilfe, Mord«, wiederholte das Mädchen. »Jemand hat sich einen Scherz mit Ihnen erlaubt, Monsieur. Wer könnte hier schon umgebracht werden?«
Jack sah sich um. Er hatte die fixe Idee, irgendwo auf dem Gartenweg eine Leiche zu finden. Er war immer noch überzeugt davon, daß der Schrei, den er gehört hatte, echt gewesen und kein Produkt seiner Einbildung war. Er blickte zu den Fenstern des kleinen Landhauses empor. Alles schien völlig ruhig und friedlich zu sein.
»Wollen Sie vielleicht unser Haus durchsuchen?« erkundigte sich das Mädchen ironisch.
Sie war so voller Skepsis, daß Jacks Verwirrung immer größer wurde. Er wandte sich ab.
»Es tut mir leid«, sagte er. »Es muß von höher oben aus dem Wald gekommen sein.«
Er zog seine Mütze und ging. Während er über die Schulter zurückblickte, sah er, daß das Mädchen ruhig ihre Jätarbeit wieder aufgenommen hatte.
Einige Zeit durchstreifte er den Wald, aber er konnte nichts Ungewöhnliches feststellen. Trotzdem war er so sicher wie zuvor, daß er diesen Schrei vernommen hatte. Schließlich gab er seine Suche auf, eilte zurück nach Hause, um hastig sein Frühstück hinunterzustürzen und den Zug zu erwischen.
Sein Gewissen drückte ihn ein wenig, als er im Zug saß. Hätte er nicht sofort der Polizei melden müssen, was er gehört hatte? Daß er es nicht tat, war einzig und allein der Reaktion des Mädchens zuzuschreiben. Sie hatte ihn ganz sicher verdächtigt, daß er anbändeln wollte. Wahrscheinlich hätte die Polizei dasselbe vermutet. Hatte er den Schrei wirklich gehört?
Mittlerweile war er nicht mehr annähernd so sicher wie vorher. Vielleicht war es der Schrei eines Vogels gewesen, den er für eine Frauenstimme gehalten hatte? Ärgerlich verwarf er diese Annahme. Es war eine Frauenstimme gewesen, und er hatte sie gehört. Er erinnerte sich, kurz vor dem Schrei auf die Uhr geblickt zu haben. Es war fünfundzwanzig Minuten nach sieben gewesen, wenn er sich recht erinnerte. Das könnte ein brauchbarer Hinweis für die Polizei sein, falls irgend etwas entdeckt werden sollte.
Als er an diesem Abend nach Hause fuhr, studierte er die Abendzeitung sorgfältig, um zu sehen, ob irgend etwas über ein Verbrechen erwähnt war. Aber er fand nichts, und er wußte kaum, ob er darüber erleichtert oder enttäuscht sein sollte.
Der folgende Morgen war naß, so naß, daß wohl auch der fanatischste Golfspieler seinen Eifer gedämpft hätte. Jack stand in der letzten Minute auf, schlang sein Frühstück hinunter und rannte, um den Zug zu erreichen. Wiederum durchsuchte er eifrig die Zeitung. Immer noch kein Bericht über irgendeine grausige Entdeckung. Die Abendzeitung brachte auch nichts.
Komisch, sagte sich Jack. Aber das wird es sein - ein paar kleine Jungen, die im Walde gespielt haben.
Am nächsten Morgen war er schon früh draußen. Als er an dem kleinen Landhaus vorbeikam, bemerkte er mit einem Seitenblick das Mädchen, das wieder im Garten Unkraut zupfte. Offenbar eine Gewohnheit von ihr.
Er schlug seinen Ball in ihre Nähe, in der Hoffnung, daß sie ihn bemerken würde. Als er auf sein nächstes Ziel zuging, sah er auf die Uhr. »Gerade wieder fünfundzwanzig Minuten nach sieben«, murmelte er. »Ich bin gespannt ...«
Die Worte erstarben auf seinen Lippen.
Hinter ihm ertönte der gleiche Schrei, der ihn schon einmal entsetzt hatte. Eine Frauenstimme rief in schrecklicher Bedrängnis:
»Mord! Hilfe! Mord!«
Jack jagte zurück. Das Mädchen mit den Stiefmütterchenaugen stand an der Pforte. Sie hob erstaunt den Kopf, als Jack triumphierend auf sie zulief und ausrief:
»Diesmal haben Sie es aber gehört!«
Sie musterte ihn von oben bis unten, so daß Jack unbehaglich von einem Fuß auf den anderen trat. Er merkte, wie sie vor ihm zurückschreckte, und als er auf sie zuging, sah sie sich ängstlich um, als sei sie bereit, ins Haus zu rennen, um Schutz zu suchen.
Sie schüttelte ihren Kopf und starrte ihn verständnislos an.
»Ich habe überhaupt nichts gehört«, sagte sie.
Es war, als hätte sie ihm einen Schlag versetzt. Sie sagte das so überzeugend, daß er ihr glauben mußte. Trotzdem, er konnte es sich nicht eingebildet haben - es konnte nicht sein, nein, es konnte keine Einbildung sein.
Ihre Stimme klang fast ein wenig mitleidig, als sie ihn fragte:
»Sie haben einen Schock beim Bombenangriff erlitten, was?«
Nun begriff er den Ausdruck der Furcht, ihren verstohlenen Blick zum Fenster. Sie glaubte, er habe Halluzinationen.
Und dann, wie eine kalte Dusche, kam ihm der fürchterliche Gedanke: Hatte sie recht? Litt er wirklich an einer Täuschung? Entsetzt über diese Möglichkeit, drehte er sich abrupt um und stolperte ohne ein Wort der Erklärung davon. Das Mädchen schaute ihm nach, seufzte und bückte sich kopfschüttelnd, um weiterzujäten.
Jack bemühte sich, die Dinge mit sich selbst ins reine zu bringen. Wenn ich diesen verdammten Schrei wieder um fünfundzwanzig Minuten nach sieben höre, sagte er sich, steht fest, daß ich irgendeine Halluzination habe. Aber ich werde ihn nicht noch einmal hören.
Den ganzen Tag über war er nervös. Er ging frühzeitig zu Bett, entschlossen, die Sache am nächsten Morgen aufzuklären.
Es war verständlich, daß er fast die halbe Nacht wach lag und schließlich sogar noch verschlief. Es war schon zwanzig Minuten nach sieben, als er aus dem Hotel herauskam und die Abhänge hinunterrannte. Er sah ein, daß er bis fünfundzwanzig nach sieben den Platz nicht mehr erreichen konnte. Andererseits, wenn dieser Schrei tatsächlich eine Halluzination war, würde er ihn auch woanders hören. Er rannte weiter. Sein Blick klebte auf dem Ziffernblatt seiner Armbanduhr.
Fünfundzwanzig nach sieben.
Von weit her kam das Echo einer Frauenstimme. Die Worte waren nicht erkennbar, aber er war überzeugt, es war der gleiche Schrei, den er zuvor gehört hatte, und er kam aus derselben Richtung, irgendwo in der Nähe des kleinen Landhauses.
Eigenartigerweise beruhigte ihn diese Tatsache. Es könnte immerhin eine Fopperei sein. So unwahrscheinlich es schien, aber auch dieses Mädchen selbst könnte sich einen Streich mit ihm erlauben. Er richtete sich resolut auf und nahm einen Schläger aus seiner Golftasche. Er würde die ersten Löcher bis zum Landhaus spielen.
Das Mädchen war, wie gewöhnlich, im Garten. Sie sah zu ihm auf, und als er seine Mütze zog, sagte sie schüchtern:
»Guten Morgen!«
Sie erschien ihm lieblicher als je zuvor.
»Ein schöner Tag, nicht wahr?« rief Jack munter und verwünschte sich, weil ihm nichts Besseres eingefallen war.
»Ja, wirklich, sehr schön.«
»Gut für den Garten, nehme ich an.«
Das Mädchen lächelte und zeigte dabei ein faszinierendes Grübchen.
»Leider nein. Meine Blumen brauchen Regen. Sehen Sie, sie sind schon ganz vertrocknet.«
Jack faßte dies als Einladung auf und trat an die niedrige Hecke, die den Garten vom Golfplatz trennte.
»Mir scheinen sie in Ordnung«, bemerkte er unbeholfen und wand sich unter dem leicht mitleidigen Blick des Mädchens.
»Die Sonne tut gut, nicht wahr?« fragte sie. »Die Blumen kann man ja immer noch begießen, aber die Sonne gibt Kraft und erneuert die Gesundheit. Monsieur geht es heute viel besser, wie ich sehe.«