»Bitte setzen Sie sich doch, Miss ... Miss ...«
»Marchaud, Monsieur. Felise Marchaud.«
»Nehmen Sie bitte Platz, Mademoiselle Marchaud, und erzählen Sie mir alles.«
Gehorsam setzte sich Felise. Sie war heute in Dunkelgrün gekleidet, was ihr sehr gut stand. Mehr als je zuvor bemerkte Jack ihren Charme und ihre Schönheit. Sein Herz schlug schneller, als er sich neben sie setzte.
»Es ist so«, begann Felise. »Wir sind erst kurze Zeit hier. Aber seit unserem Einzug erzählt man uns, in unserem Haus - unserem süßen kleinen Haus - spuke es. Kein Dienstbote will bleiben. Das ist nicht so schlimm - ich kann die Hausarbeit selber machen und auch kochen.«
Engel! dachte der entflammte junge Mann. Sie ist wunderbar. Nach außen hin behielt er den Ausdruck sachlicher Aufmerksamkeit.
»Diese Reden über Geister«, fuhr Felise fort. »Ich glaube, das ist alles Unsinn - das heißt, bis vor vier Tagen. Monsieur, seit vier Nächten habe ich denselben Traum. Eine Dame steht da, sie ist schön, groß und lieblich. In ihren Händen hält sie einen blauen chinesischen Krug. Sie wirkt gequält, sehr gequält, und immer wieder hält sie mir diesen Krug entgegen, als ob sie mich anflehte, irgend etwas damit zu tun. Aber sie kann nicht sprechen, und ich weiß nicht, was sie will. Diesen Traum hatte ich die ersten beiden Nächte. Aber vorletzte Nacht kam noch etwas dazu. Die Dame und der blaue Krug verschwanden, und plötzlich hörte ich ihre Stimme. Ich weiß, es war ihre Stimme, begreifen Sie, Monsieur? Sie rief: >Mord! Hilfe! Mord!<
Ich erwachte, in Schweiß gebadet. Ich redete mir ein, es sei ein Alptraum, und die Worte, die Sie auch hörten, seien ein Zufall. Aber vergangene Nacht kam der Traum wieder. Monsieur, was ist, das? Sie haben es doch auch gehört. Was sollen wir tun?«
Felises Gesicht war verstört. Ihre schmalen Hände krampften sich zusammen, und flehentlich blickte sie auf Jack. Er heuchelte eine Unbekümmertheit, die er durchaus nicht empfand.
»Sie müssen keine Angst haben, Mademoiselle Marchaud. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, wiederholen Sie die ganze Geschichte vor Dr. Lavington, einem Freund von mir. Er wohnt auch hier.«
Felise erklärte sich einverstanden, und Jack ging, um Lavington zu suchen. Ein paar Minuten später kehrte er mit ihm zurück.
Lavington beobachtete das Mädchen genau, als Jack sie mit ihm bekannt machte. Mit ein paar tröstenden Worten gelang es ihm, sie zu beruhigen. Dann lauschte er gespannt ihrer Geschichte.
»Äußerst seltsam«, sagte er, als sie fertig war. »Haben Sie mit Ihrem Vater darüber gesprochen?«
Felise schüttelte den Kopf.
»Ich wollte ihn nicht beunruhigen. Er ist immer noch sehr krank.«
Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Ich halte alles von ihm fern, was ihn aufregen könnte.«
»Ich verstehe«, sagte Lavington gütig. »Und ich bin froh, daß Sie zu uns gekommen sind, Mademoiselle Marchand. Hartington hier, wie Sie wissen, hatte ein Erlebnis, das Ihrem sehr ähnlich ist. Ich glaube, daß wir dem Geheimnis nun auf der Spur sind. Fällt Ihnen noch etwas ein?«
Felise machte eine rasche Bewegung.
»Natürlich! Wie dumm von mir. Es ist das Wichtigste der ganzen Geschichte. Schauen Sie, Monsieur, was ich hinter dem Küchenschrank fand.«
Sie zeigte ihnen ein schmutziges Stück Zeichenpapier, auf dem in Wasserfarben die Rohskizze einer Frau hingeworfen war. Es war nur eine Kleckserei, aber die Ähnlichkeit war deutlich. Es zeigte eine große blonde Frau mit einem fremdländischen Gesicht. Sie stand an einem Tisch, auf dem ein blauer Porzellankrug stand.
»Ich habe es erst heute morgen gefunden«, erklärte Felise. »Monsieur, das ist das Gesicht der Frau aus meinem Traum. Und es ist derselbe Krug.«
»Ungewöhnlich«, meinte Lavington. »Der Schlüssel zu diesem Geheimnis ist ganz offensichtlich der blaue Krug. Mir scheint, es ist ein chinesischer Krug, wahrscheinlich ein sehr alter. Er hat ein eigentümliches Muster.«
»Er ist chinesisch«, erklärte Jack. »Ich habe ein genau gleiches Stück in der Sammlung meines Onkels gesehen. Er ist ein leidenschaftlicher Sammler chinesischen Porzellans. Ich erinnere mich, einen solchen Krug vor nicht allzu langer Zeit gesehen zu haben.«
»Der chinesische Krug«, murmelte Lavington. Er versank ein paar Minuten in Gedanken, dann hob er plötzlich den Kopf, und ein seltsames Leuchten trat in seine Augen.
»Hartington, wie lange hat Ihr Onkel diesen Krug schon?«
»Wie lange? Das weiß ich wirklich nicht.«
»Denken Sie nach! Hat er ihn erst kürzlich gekauft?«
»Ich weiß es nicht. Ja ... ich glaube, ja! Jetzt erinnere ich mich. Ich selbst interessiere mich nicht sehr für Porzellan, aber mir ist so, als hätte er mir diesen Krug als neuesten Zugang seiner Sammlung gezeigt.«
»Ist das weniger als zwei Monate her? Die Turners haben das Heather-Landhaus vor ungefähr acht Wochen verlassen.«
»Ja, ich glaube, es war vor zwei Monaten.«
»Besucht Ihr Onkel manchmal Auktionen?«
»Er fährt von einer Auktion zur anderen.«
»Dann dürfen wir wohl mit Recht annehmen, daß er diesen Krug auf der Versteigerung der Turnerschen Sachen erstand. Ein seltsamer Zufall - oder vielleicht das, was ich das Suchen nach der blinden Gerechtigkeit nenne. Hartington, Sie müssen sofort feststellen, wo Ihr Onkel diesen Krug gekauft hat.«
Jacks Gesicht verzog sich.
»Ich fürchte, das wird nicht möglich sein. Onkel George ist nicht in England. Ich weiß nicht einmal, wohin ich ihm schreiben könnte.«
»Wie lange wird er fortbleiben?«
»Mindestens drei bis vier Wochen.«
Es entstand eine Pause. Felise blickte nervös von einem Mann zum anderen.
»Gibt es denn nichts, was wir tun können?« fragte sie mutlos.
»Ja, es gibt etwas«, antwortete Lavington in einem Ton zurückhaltender Erregung. »Es ist vielleicht ungewöhnlich, aber ich glaube, es verspricht Erfolg. Hartington, Sie müssen diesen Krug besorgen. Bringen Sie ihn hierher, und falls Mademoiselle erlaubt, werden wir einen Abend im Heather-Landhaus verbringen und den blauen Krug mitnehmen.«
Jack fühlte, wie er eine Gänsehaut bekam.
»Was glauben Sie, was passieren wird?« fragte er unruhig.
»Ich habe nicht die geringste Ahnung, aber ich glaube ehrlich daran, daß das Geheimnis gelüftet und der Geist vertrieben wird. Höchstwahrscheinlich hat der Krug einen falschen Boden, und irgend etwas ist innen versteckt. Wenn kein Phänomen erscheint, müssen wir eben unseren Scharfsinn gebrauchen.«
Felise klatschte in die Hände.
»Das ist eine wunderbare Idee!« rief sie aus.
Aus ihren Augen leuchtete Enthusiasmus. Jack war nicht annähernd so begeistert, im Gegenteil, innerlich war er sehr beunruhigt, aber nichts hätte ihn bewegen können, diese Tatsache vor Felise zuzugeben. Der Doktor tat so, als wäre sein Vorschlag die natürlichste Sache der Welt.
»Wann können Sie den Krug holen?« fragte Felise.
»Morgen«, antwortete er widerwillig.
Es war ihm nicht angenehm, aber er mußte die Sache jetzt zu Ende bringen. Bis dahin nahm er sich vor, so wenig wie möglich an den wahnsinnigen Schrei zu denken.
Am folgenden Abend ging er in das Haus seines Onkels und nahm den betreffenden Krug mit. Als er ihn wiedersah, verstärkte sich seine Gewißheit, daß er mit dem auf dem Bild identisch war. Aber so sorgfältig er ihn auch untersuchte, er fand weder einen doppelten Boden noch sonst etwas Außergewöhnliches.
Es war elf Uhr, als er mit Lavington im Heather-Landhaus ankam. Felise hatte schon auf sie gewartet und öffnete leise die Tür, noch bevor sie angeklopft hatten.
»Kommen Sie herein«, flüsterte sie. »Mein Vater schläft oben. Wir dürfen ihn nicht aufwecken. Ich habe hier drinnen für Sie Kaffee vorbereitet.«
Sie führte die beiden in ein kleines, gemütlich eingerichtetes Wohnzimmer.