Выбрать главу

»Das habe ich Ihnen schon gesagt. Aber ich kam noch aus einem anderen Grund. Ich schätze Sie. Hören Sie zu, mon ami. Sie sind ein todkranker Mann. Sie haben das Mädchen, das Sie lieben, verloren. Aber das eine sind Sie nicht: Sie sind kein Mörder. Sagen Sie mir nun: Sind Sie froh oder unglücklich darüber, daß ich kam?«

Es entstand eine Pause. Dann erhob sich Harrison. Er trug den würdevollen Ausdruck eines Mannes, der sein eigenes Ich besiegt hatte. Er streckte die Hand über den Tisch und rief:

»Dem Himmel sei Dank, daß Sie kamen! O Gott, ja, ich bin froh.«

Greenshaws Monstrum

Die beiden Männer bogen um die Gruppe der Gebüsche.

»So, da wären wir«, erklärte Raymond West. »Hier ist es.«

Horace Bindler holte tief Atem und rief voller Anerkennung:

»Aber, mein lieber Junge, wie wundervoll!« Seine Stimme endete in einem hellen Schrei ästhetischer Verzückung und sank dann wieder zu einem Ton tiefer Ehrerbietung herab. »Es ist ja unglaublich! Geradezu unwahrscheinlich! Ein antikes Stück erster Güte.«

»Ich habe mir gleich gedacht, daß es dir gefallen würde«, sagte Raymond West voller Selbstzufriedenheit.

»Gefallen? Du meine Güte!« Horace fand keine Worte mehr. Er schnallte seine Kamera ab und machte sich ans Werk. »Dies wird zu den Juwelen meiner Sammlung gehören«, erklärte er selig. »Ich finde es wirklich ganz amüsant, eine Sammlung von Monstrositäten zu besitzen. Auf diese Idee bin ich vor sieben Jahren verfallen, als ich eines Abends in der Badewanne saß. Das letzte richtige Juwel ergatterte ich im Campo Santo in Genua. Aber ich glaube, es kann an dieses nicht heranreichen. Wie heißt es eigentlich?«

»Ich habe keine Ahnung«, erwiderte Raymond.

»Wahrscheinlich hat es aber doch einen Namen.«

»Das nehme ich stark an. Aber hier in der Gegend spricht man stets nur von Greenshaws Monstrum.«

»Ist Greenshaw der Erbauer des Hauses?«

»Ja. Er hat es um achtzehnhundertsechzig herum gebaut -als Krönung einer lokalen Karriere jener Zeit: barfüßiger Junge, der zu ungeheurem Wohlstand gelangt war. Warum er es errichtet hat, darüber gehen die Meinungen der Einheimischen auseinander. Manche behaupten, aus schierem Überfluß, andere, um seine Gläubiger zu beeindrucken. Wenn das letztere zutrifft, so haben sie sich nicht davon blenden lassen; denn er machte praktisch Bankrott.«

Horaces Kamera klickte.

»Fertig«, sagte er mit großer Befriedigung. »Erinnere mich daran, daß ich dir Nr. 310 in meiner Sammlung zeige. Ein wirklich unglaublicher marmorner Kaminsims im italienischen Stil.« Mit einem Blick auf das Haus fügte er hinzu: »Ich kann mir nicht vorstellen, wie Mr. Greenshaw sich das alles ausgeknobelt hat.«

»Es springt eigentlich in die Augen«, meinte Raymond. »Er hatte wohl die Schlösser der Loire besucht. Meinst du nicht auch? Die Türmchen sprechen dafür. Dann scheint er unglücklicherweise im Orient herumgereist zu sein. Der Einfluß der Tadsch Mahal ist unverkennbar. Der maurische Flügel gefällt mir eigentlich. Ebenso die Spuren eines venezianischen Palastes.«

»Man wunderte sich im stillen, daß er jemals einen Architekten dazu bewegen konnte, diese Pläne auszuführen.«

Raymond zuckte die Achseln.

»Da ist er wohl nicht auf Schwierigkeiten gestoßen«, meinte er.

»Der Architekt hat sich wahrscheinlich mit einem guten Lebenseinkommen zur Ruhe gesetzt, während der arme alte Greenshaw bankrott ging.«

»Könnten wir es uns wohl von der anderen Seite ansehen?« fragte Horace. »Oder wandeln wir hier auf verbotenen Pfaden?«

»Gewiß wandeln wir hier auf verbotenen Pfaden«, bestätigte Raymond. »Aber es wird wohl nicht so schlimm sein.« Er ging auf die Ecke des Hauses zu, und Horace hüpfte hinter ihm her. »Wer wohnt hier eigentlich, sag mal? Waisenkinder oder Feriengäste? Eine Schule kann es doch nicht sein. Man sieht keine Spielplätze und spürt nichts von munterem Treiben.«

»Oh, eine Greenshaw lebt hier noch«, erwiderte Raymond. »Das Haus selbst blieb bei dem Krach verschont. Der Sohn des alten Greenshaw erbte es. Er war ein ziemlicher Geizhals und hauste in einem kleinen Winkel des Hauses. Gab nie einen roten Heller aus. Hatte auch wohl keinen roten Heller zum Ausgeben. Jetzt wohnt seine Tochter hier. Eine alte Dame - sehr exzentrisch.«

Während er dies alles erzählte, gratulierte sich Raymond, daß er zwecks Unterhaltung seines Gastes an Greenshaws Monstrum gedacht hatte. Diese literarischen Kritiker beteuerten immer ihre Sehnsucht nach einem Wochenende auf dem Lande, und wenn sie ihr Ziel erreicht hatten, fanden sie es gewöhnlich äußerst langweilig. Morgen würden ja die sensationellen Sonntagszeitungen für Abwechslung sorgen, aber heute war es eben eine glückliche Idee gewesen, daß er diesen Besuch von Greenshaws Monstrum vorgeschlagen hatte, um Horace Bindlers wohlbekannte Sammlung von Monstrositäten zu bereichern.

Sie bogen um die Ecke des Hauses und kamen zu einem vernachlässigten Rasen. In einem Winkel befand sich ein großer Steingarten, und darin stand eine gebeugte Gestalt, bei deren Anblick Horace begeistert Raymonds Arm umklammerte.

»Mein lieber Junge«, rief er aus, »siehst du, was sie anhat? Ein geblümtes Kattunkleid. Wie ein Hausmädchen - als es noch Hausmädchen gab. Zu meinen kostbarsten Kindheitserinnerungen zählt der Aufenthalt in einem Landhaus, wo man des Morgens von einem richtigen Hausmädchen mit Häubchen und gestärktem Kattunkleid geweckt wurde. Ja, mein Lieber, ein regelrechtes Häubchen. Aus Musselin mit flatternden Bändern. Nein, vielleicht war es auch das Zimmermädchen, das die flatternden Bänder hatte. Jedenfalls war es aber ein richtiges Hausmädchen, und es brachte eine riesige Messingkanne mit heißem Wasser. Was für einen interessanten Tag erleben wir doch heute!«

Die Gestalt im Kattunkleid hatte sich inzwischen aufgerichtet und wandte sich mit einem Pflanzenheber in der Hand ihnen zu. Sie war eine ziemlich auffallende Persönlichkeit. Wirre graue Locken fielen ihr in dünnen Strähnen auf die Schultern, und auf ihren Kopf war ein Strohhut gestülpt, wie ihn die Pferde in Italien tragen. Das bunte Kattunkleid, das sie trug, reichte ihr fast bis zu den Knöcheln. Aus einem wettergebräunten, nicht allzu sauberen Gesicht blickten scharfe Augen sie prüfend an.

»Ich muß Sie vielmals um Entschuldigung bitten, Miss Greenshaw«, sagte Raymond West, als er auf sie zuging, »weil wir so ohne weiteres hier eingedrungen sind. Aber Mr. Horace Bindler, der bei mir zu Gast weilt ...«

Horace verbeugte sich und nahm seinen Hut ab.

». interessiert sich mächtig für - hm - alte Geschichte und - hm - schöne Bauten.«

Raymond West sprach mit der Ungezwungenheit eines bekannten Schriftstellers, der weiß, daß er eine Berühmtheit ist und sich so manches herausnehmen kann.

Miss Greenshaw blickte zu dem steinernen Ungetüm empor, das sich hinter ihr in seiner ganzen Überschwenglichkeit ausdehnte.

»Es ist auch ein schönes Haus«, sagte sie. »Mein Großvater hat es gebaut - natürlich vor meiner Zeit. Er soll gesagt haben, daß er die Einheimischen in Erstaunen setzen wolle.«

»Und das ist ihm bestimmt gelungen, Madam«, versicherte ihr Horace Bindler.

»Mr. Bindler ist der weitbekannte literarische Kritiker«, sagte Raymond West.

Miss Greenshaw hegte offensichtlich keine besondere Ehrfurcht vor literarischen Kritikern. Sie blieb unbeeindruckt.

»Ich betrachte das Haus«, fuhr sie fort, »als ein Denkmal für das Genie meines Großvaters. Törichte Menschen kommen hierher und fragen mich, warum ich es nicht verkaufe und in einer Etage lebe. Was sollte ich wohl in einer Etage anfangen? Dies ist mein Heim, und darin wohne ich. Habe immer hier gewohnt.« Sie schien über die Vergangenheit nachzugrübeln. »Wir waren zu dritt. Laura heiratete den Unterpfarrer, und Papa wollte ihr kein Geld geben mit der Begründung, daß Geistliche nicht an irdischen Gütern hängen sollten. Sie starb bei der Geburt eines Kindes, und das Kind starb auch. Nettie ist mit dem Reitlehrer davongelaufen, und Papa hat sie natürlich enterbt. Hübscher Bursche, dieser Harry Fletcher, aber ein Taugenichts. Glaube nicht, daß Nettie mit ihm glücklich war. Jedenfalls hat sie nicht lange gelebt. Sie hatten einen Sohn. Er schreibt mir manchmal, ist aber natürlich kein Greenshaw. Ich bin die letzte der Greenshaws.«