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Sie richtete die gebeugten Schultern mit einem gewissen Stolz auf und schob den verwegen auf ihrem Kopfe thronenden Strohhut zurecht. Dann drehte sie sich um und sagte in scharfem Ton: »Ja, Mrs. Cresswell, was gibt's denn?«

Vom Hause her näherte sich eine Gestalt, die einen geradezu lächerlichen Gegensatz zu Miss Greenshaw darstellte. Mrs. Cresswell hatte ein wunderbar frisiertes Haupt. Ihr blaugetöntes Haar türmte sich in sorgfältig arrangierten Locken und Rollen zu einer beträchtlichen Höhe. Man hatte den Eindruck, als wolle sie als französische Marquise auf einen Maskenball gehen. Im übrigen war ihre ältliche Gestalt nicht, wie man hätte erwarten sollen, in rauschende schwarze Seide, sondern in eine der glänzenderen Abarten schwarzer Kunstseide gehüllt. Obwohl sie nicht gerade dick war, hatte sie einen gutentwickelten, üppigen Busen. Ihre Stimme war wider Erwarten tief, und sie sprach mit ausgezeichneter Diktion. Nur ein leichtes Zögern bei Wörtern, die mit einem H begannen, und die schließlich übertriebene Aussprache der Aspiraten erweckten den Verdacht, daß sie in ferner Jugendzeit vielleicht die Gewohnheit hatte, die Aspiraten fallen zu lassen.

»Der Fisch, Madam«, sagte Mrs. Cresswell. »Die Kabeljauscheibe ist nicht geschickt worden. Ich habe Alfred gebeten, sie zu holen. Aber er weigert sich.«

Miss Greenshaw brach in unerwartetes Gelächter aus.

»Weigert sich, ja?«

»Alfred ist höchst ungefällig gewesen, Madam.«

Miss Greenshaw hob zwei erdbeschmutzte Finger an die Lippen, stieß einen ohrenzerreißenden Pfiff aus und rief:

»Alfred! Alfred, komm mal her!«

Auf diese Aufforderung hin erschien an der Ecke des Hauses ein junger Mann mit einem Spaten in der Hand. Er hatte ein verwegenes, hübsches Gesicht, und als er näher kam, warf er Mrs. Cresswell einen unverkennbar bösartigen Blick zu.

»Sie haben mich gerufen, Miss?«

»Ja, Alfred. Ich höre, du hast dich geweigert, den Fisch zu holen. Wie steht es damit?«

Alfred antwortete in mürrischem Ton.

»Wenn Sie es wünschen, Miss, will ich ihn holen. Sie brauchen es nur zu sagen.«

»Ich möchte den Fisch für mein Abendessen haben.«

»In Ordnung, Miss. Ich gehe sofort.«

Er warf Mrs. Cresswell einen unverschämten Blick zu. Sie errötete und murmelte vor sich hin:

»Unerhört! Es ist unerträglich.«

»Da fällt mir gerade ein«, sagte Miss Greenshaw, »daß wir ein paar fremde Besucher eigentlich sehr gut gebrauchen können, nicht wahr, Mrs. Cresswell?«

Mrs. Cresswell blickte verdutzt drein.

»Ich verstehe nicht, Madam.«

»Sie wissen doch, wofür«, sagte Miss Greenshaw, heftig mit dem Kopfe nickend. »Der Erbe darf das Testament nicht als Zeuge unterschreiben. Das stimmt doch, nicht wahr?« Sie wandte sich an Raymond West.

»Ganz richtig«, bestätigte Raymond.

»So viel weiß ich nämlich auch von der Rechtswissenschaft«, erklärte Miss Greenshaw. »Und Sie sind beide Männer von Rang.«

Sie warf ihren Pflanzenheber in den Unkrautkorb.

»Könnten Sie bitte mit in die Bibliothek kommen?«

»Mit Vergnügen«, erklärte Horace eifrig.

Miss Greenshaw führte sie durch eine Glastür in einen riesigen in Gelb und Gold gehaltenen Salon mit verschossenem Brokat an den Wänden und Schutzhüllen

über den Möbeln, und dann durch eine große dämmerige Halle die Treppe hinauf und in ein Zimmer im ersten Stock.

»Die Bibliothek meines Großvaters«, verkündete sie stolz.

Horace blickte sich mit ausgesprochenem Vergnügen im Räume um. Von seinem Standpunkt aus gesehen, steckte er voller Monstrositäten. Die Köpfe von Sphinxen tauchten an den unwahrscheinlichsten Möbelstücken auf. Es existierte eine kolossale Bronze, die Paul und Virginia darstellte, ferner eine riesige Kaminuhr mit klassischen Motiven, die er brennend gern fotografiert hätte.

»Viele schöne Bücher«, bemerkte Miss Greenshaw.

Raymond stand bereits vor den Bücherreihen. Ein flüchtiger Blick verriet ihm schon, daß kein Buch von wirklichem Interesse dabei war, ja überhaupt kein Buch, das gelesen zu sein schien. Es waren alles prächtig gebundene Sammlungen von Klassikern, wie sie vor neunzig Jahren für die Ausstattung der Bibliothek eines Gentlemans geliefert wurden. Es waren auch einige Romane einer vergangenen Zeit darunter. Aber auch sie erweckten den Eindruck, als ob sie nicht gelesen seien.

Miss Greenshaw fummelte in den Schubladen des Schreibtisches herum und holte schließlich eine Pergamenturkunde hervor.

»Mein Testament«, erläuterte sie. »Man muß ja sein Geld irgend jemandem vermachen - so heißt es wenigstens. Wenn ich ohne Testament stürbe, fiele es an den Sohn eines Pferdehändlers. Hübscher Bursche, dieser Harry Fletcher, aber ein ausgekochter Schurke. Ich sehe nicht ein, warum sein Sohn diesen Besitz erben soll. Nein«, fuhr sie fort, gleichsam in Erwiderung auf einen unausgesprochenen Einwand, »ich habe es mir überlegt und hinterlasse Cresswell alles.«

»Ihrer Haushälterin?«

»Ja. Ich habe ihr alles auseinandergesetzt. Ich vermache ihr alles, was ich besitze, und dann brauche ich ihr keinen Lohn zu zahlen. Dadurch spare ich eine Menge laufender Ausgaben, und es spornt sie etwas an. Vor allen Dingen kann sie mir nicht kündigen und jeden Augenblick einfach davonlaufen. Sie ist sehr großspurig, nicht wahr? Aber ihr Vater war ein sehr kleiner Klempner. Sie hat also gar keine Veranlassung, sich etwas einzubilden.«

Mittlerweile hatte sie das Dokument auseinandergefaltet. Jetzt nahm sie einen Federhalter, tauchte ihn ins Tintenfaß und schrieb ihren Namen: Katherine Dorothy Greenshaw.

»So, und jetzt unterzeichnen Sie«, sagte sie, »damit es rechtskräftig wird.«

Sie reichte Raymond West den Federhalter. Raymond zögerte einen Augenblick, da er eine unerwartete Abneigung empfand, dieser Bitte zu entsprechen. Dann kritzelte er rasch den wohlbekannten Namenszug, wofür ihm der Postbote gewöhnlich mindestens ein halbes Dutzend Bittbriefe am Tag brachte.

Horace nahm den Federhalter und fügte seine winzige Unterschrift hinzu.

»Das wäre erledigt«, sagte Miss Greenshaw.

Dann ging sie zu den Bücherschränken und stand unschlüssig davor. Schließlich öffnete sie eine der Glastüren, nahm ein Buch heraus und schob das zusammengefaltete Dokument hinein.

»Ich habe meine besonderen Verstecke«, sagte sie.

»Lady Audleys Geheimnis«, bemerkte Raymond West, der den Titel sah, als sie das Buch wieder an seinen Platz stellte.

Miss Greenshaw brach erneut in Gelächter aus.

»Damals ein Bestseller«, sagte sie. »Im Gegensatz zu Ihren Büchern, wie?«

Sie gab Raymond plötzlich einen freundlichen Stups in die Rippen. Raymond war ziemlich überrascht, daß sie überhaupt wußte, daß er Bücher schrieb.

»Dürfte ich vielleicht«, fragte Horace aufgeregt, »eine Aufnahme von der Uhr machen?«

»Selbstverständlich«, sagte Miss Greenshaw. »Sie stammt, glaube ich, von der Pariser Ausstellung.«

»Sehr wahrscheinlich«, meinte Horace und knipste.

»Dieser Raum ist seit meines Großvaters Lebzeiten nicht viel benutzt worden«, sagte Miss Greenshaw. »Dieser Schreibtisch ist angefüllt mit seinen alten Tagebüchern. Sicherlich sehr interessant. Meine Augen sind leider so schlecht, daß ich sie nicht selbst lesen kann. Ich möchte sie gern veröffentlichen lassen, aber das erfordert gewiß allerlei Arbeit.«