»Dafür könnten Sie jemanden engagieren«, schlug Raymond West vor.
»Wirklich? Das wäre eine Idee. Ich werde es mir überlegen.«
Raymond West blickte auf seine Uhr.
»Wir dürfen Ihre Zeit nicht länger in Anspruch nehmen«, sagte er.
»Ich habe mich, sehr über Ihren Besuch gefreut«, sagte Miss Greenshaw huldvollst. »Zuerst hatte ich angenommen, Sie seien der Polizist, als Sie um die Ecke des Hauses kamen.«
»Weshalb gerade ein Polizist?« fragte Horace, der gern Fragen stellte.
Miss Greenshaw ging anders darauf ein, als sie erwartet hatten.
»Wenn Sie wissen wollen, was die Uhr geschlagen hat, fragen Sie einen Polizisten«, zwitscherte sie. Mit dieser Kostprobe viktorianischen Witzes stieß sie Horace in die Rippen und brach in schallendes Gelächter aus.
»Ein wunderbarer Nachmittag«, seufzte Horace auf dem Heimweg. »Das Haus besitzt wirklich alles. Das einzige, was in der Bibliothek noch fehlt, ist eine Leiche. Ich bin überzeugt, daß den Verfassern dieser uralten Detektivgeschichten, wo der Mord immer in der Bibliothek stattfand, gerade eine solche Bibliothek vor Augen schwebte.«
»Wenn du dich gern über Mord unterhalten willst«, sagte Raymond, »mußt du dich an meine Tante Jane wenden.«
»Deine Tante Jane? Meinst du etwa Miss Marple?« Horace war ein wenig verdutzt.
Die bezaubernde, ehrwürdige Dame, der er gestern abend vorgestellt worden war, schien die letzte Person zu sein, die man irgendwie mit Mord in Verbindung brachte.
»O ja«, erwiderte Raymond. »Mord ist ihre Spezialität.«
»Aber, mein lieber Junge, wie interessant! Doch was willst du eigentlich damit sagen?«
»Genau das«, entgegnete Raymond und fügte erläuternd hinzu:
»Manche begehen einen Mord, manche werden in eine Mordangelegenheit verwickelt, und anderen werden Morde aufgedrängt. Meine Tante Jane gehört zur dritten Kategorie.«
»Das soll wohl ein Scherz sein.«
»Durchaus nicht. Ich kann dich an einen früheren Kommissar von Scotland Yard, mehrere hohe Polizeibeamte des Bezirks und einige vielbeschäftigte Inspektoren des C. I. D. verweisen.«
Horace erklärte glückstrahlend, daß man aus dem Staunen überhaupt nicht mehr herauskomme. Am Teetisch erstatteten sie Raymonds Frau, Joan West, ihrer Nichte Lou Oxley und der alten Miss Marple Bericht über die Erlebnisse des Nachmittags, wobei sie alle von Miss Greenshaw gemachten Äußerungen wiederholten.
»Aber ich muß sagen«, gestand Horace, »daß das ganze Etablissement einen etwas unheimlichen Eindruck auf mich gemacht hat. Diese fürstliche Kreatur, die Haushälterin -vielleicht etwas Arsen in die Teekanne, jetzt, wo sie weiß, daß ihre Herrin ein Testament zu ihren Gunsten gemacht hat?«
»Nun verrate es uns mal, Tante Jane«, scherzte Raymond.
»Wird es einen Mord geben oder nicht? Was ist deine Ansicht?«
»Meine Ansicht ist«, erwiderte Miss Marple, während sie mit ziemlich strenger Miene ihr Wollknäuel wickelte, »daß du nicht dauernd über solche Dinge spötteln solltest, Raymond. Arsen ist natürlich durchaus möglich. Wahrscheinlich schon in Form eines Unkrautvertilgungsmittels im Geräteschuppen vorhanden.«
»Aber liebste Tante«, sagte Joan West zärtlich, »würde man nicht etwas zu leicht dahinterkommen?«
»Es ist ja ganz schön, wenn man ein Testament macht«, warf Raymond ein, »aber ich glaube nicht, daß das arme alte Geschöpf irgend etwas zu hinterlassen hat außer dem großen Kasten. Und wer hätte schon für dieses mehr kostspielige als einträgliche Haus Verwendung?«
»Womöglich eine Filmgesellschaft«, meinte Horace. »Vielleicht könnte auch ein Hotel oder ein Heim daraus gemacht werden.«
»Solche Interessenten wollen es für ein Ei und ein Butterbrot haben«, behauptete Raymond. Doch Miss Marple schüttelte den Kopf.
»Weißt du, lieber Raymond, ich kann deine Ansicht nicht teilen. Hinsichtlich des Geldes, meine ich. Der Großvater war offenbar einer jener Verschwender, die rasch zu Geld kommen, es aber nicht halten können. Er hat vielleicht, wie du sagst, kein Geld mehr gehabt, aber er war wohl kaum bankrott. Sonst hätte sein Sohn das Haus nicht behalten können. Der Sohn war aber nun, wie es so oft der Fall ist, ganz anders veranlagt als sein Vater. Er war ein Geizhals. Ein Mann, der jeden Pfennig zehnmal umdrehte, ehe er ihn ausgab. Ich möchte wohl annehmen, daß er im Laufe seines Lebens eine ganz beträchtliche Summe beiseite gelegt hat. Diese Miss Greenshaw ist offenbar genauso geartet wie ihr Vater. Auch sie gibt nicht gern etwas aus. Ich halte es daher für sehr wahrscheinlich, daß sie eine ziemliche Summe auf die hohe Kante gelegt hat.«
»Wenn die Sache so liegt«, sagte Joan West, »wie wär's dann mit Lou?«
Sie blickten alle zu Lou hinüber, die schweigsam am Feuer saß.
Lou war Joan Wests Nichte. Ihre Ehe war kürzlich, wie sie sich selbst ausdrückte, in die Brüche gegangen, und sie saß daher mit zwei kleinen Kindern und sehr wenig Geld für ihren Unterhalt da.
»Ich meine«, fuhr Joan fort, »wenn diese Miss Greenshaw wirklich jemanden sucht, der sich dieser Tagebücher annimmt und sie zur Veröffentlichung vorbereitet ...«
»Keine schlechte Idee«, meinte Raymond.
Lou sagte mit leiser Stimme: »Das ist eine Arbeit, die ich übernehmen könnte, und ich hätte Spaß daran.«
»Ich werde ihr schreiben«, erbot sich Raymond.
»Ich möchte ganz gern wissen«, äußerte sich Miss Marple nachdenklich, »was die alte Dame wohl mit der Bemerkung von dem Polizisten meinte.«
»Oh, das war sicher nur ein Scherz.«
»Diese Äußerung«, erklärte Miss Marple, während sie nachdrücklich mit dem Kopf nickte, »erinnert mich lebhaft an Mr. Naysmith.«
»Und wer war Mr. Naysmith?« erkundigte sich Raymond neugierig.
»Ein Bienenzüchter«, antwortete Miss Marple. »Auch verstand er sich sehr gut auf die Akrostichen in den Sonntagsblättern und hatte großen Spaß daran, seinen Mitmenschen aus Ulk falsche Eindrücke zu hinterlassen.«
Alle schwiegen eine Weile und dachten über Mr. Naysmith nach. Da jedoch zwischen ihm und Miss Greenshaw kein Zusammenhang zu bestehen schien, kam man zu dem Schluß, daß die liebe Tante Jane in ihrem Alter vielleicht ein ganz klein wenig faselig wurde. Horace Bindler kehrte nach London zurück, ohne weitere Monstrositäten gesammelt zu haben, und Raymond West schrieb einen Brief an Miss Greenshaw, in dem er ihr mitteilte, daß er eine Mrs. Louisa Oxley kenne, die befähigt sei, die Arbeit an den Tagebüchern aufzunehmen. Nach Ablauf einiger Tage kam ein Brief in zittriger altmodischer Handschrift, in dem Miss Greenshaw ihre Bereitwilligkeit erklärte, Mrs. Oxleys Dienste in Anspruch zu nehmen, und einen Tag festsetzte, an dem sie sich vorstellen sollte.
Lou präsentierte sich pflichtschuldigst zur angegebenen Zeit. Es wurde ein großzügiges Honorar vereinbart, und sie begann gleich am nächsten Tage mit ihrer Arbeit.
»Ich bin dir äußerst dankbar«, sagte sie zu Raymond. »Es paßt alles wunderschön. Ich kann die Kinder erst zur Schule bringen, anschließend nach Greenshaws Monstrum gehen und sie auf dem Heimweg wieder abholen. Wie phantastisch das ganze Etablissement doch ist! Die alte Dame spottet jeder Beschreibung.«
Am Abend ihres ersten Arbeitstages berichtete Lou von ihren Erlebnissen.
»Die Haushälterin habe ich kaum gesehen. Sie erschien um halb zwölf mit verächtlich gespitztem Munde und brachte mir Kaffee und Kekse, wobei sie kaum ein Wort mit mir wechselte. Ich glaube, es paßt ihr ganz und gar nicht, daß ich engagiert worden bin. Zwischen ihr und Alfred, dem Gärtner, scheint eine große Fehde zu bestehen. Er stammt aus dem Dorf und ist offenbar ziemlich faul. Die beiden reden nicht miteinander. Miss Greenshaw bemerkte in ihrer etwas erhabenen Art: >Solange ich mich entsinnen kann, bestand immer eine Fehde zwischen dem Garten- und dem Hauspersonal. Schon zu meines Großvaters Zeiten. Damals hatten wir drei Gärtner und einen Burschen im Garten und acht Mädchen im Haus, aber es gab immer Reibereien.««