Miss Marple räusperte sich.
»Aber mein liebes Kind, heutzutage kann man doch sicherlich ... Ich meine, ich habe - hm - sie schon selbst schamlos in Schaufenstern ausgestellt gesehen. Es ist für jede Frau sehr leicht, einen - eine Büste in jeder Größe und Ausdehnung zu haben.«
»Worauf willst du eigentlich hinaus?« erkundigte sich Raymond.
»Nun, in den zwei oder drei Tagen, als Lou dort arbeitete, hätte meines Erachtens eine Frau gut beide Rollen spielen können. Du hast selbst gesagt, Lou, daß du die Haushälterin kaum gesehen hast, abgesehen von dem kurzen Augenblick, wenn sie dir vormittags das Tablett mit dem Kaffee brachte. Auf der Bühne sieht man ja auch diese geschickten Verwandlungskünstler, die nach wenigen Minuten immer wieder in einer anderen Rolle auftreten. Ich bin überzeugt, daß der Wechsel sich sehr rasch bewerkstelligen ließ. Diese Pompadourfrisur war sicher eine Perücke, die man schnell abnehmen und aufstülpen konnte.«
»Tante Jane! Willst du etwa sagen, daß Miss Greenshaw schon tot war, bevor ich mit meiner Arbeit dort begann?«
»Nicht tot. Aber unter der Einwirkung von Betäubungsmitteln, möchte ich behaupten. Für eine gewissenlose Frau wie die Haushälterin eine Kleinigkeit. Dann engagierte sie dich und trug dir auf, den Neffen anzuläuten und ihn für eine bestimmte Zeit zum Lunch einzuladen. Die einzige Person, die gewußt hätte, daß diese Miss Greenshaw nicht Miss Greenshaw war, wäre Alfred gewesen. Und wie du dich vielleicht noch entsinnen kannst, waren die ersten beiden Tage, an denen du dort gearbeitet hast, regnerisch, und Miss Greenshaw blieb im Hause. Wegen seiner Fehde mit der Haushälterin ließ sich Alfred nie im Hause blicken. Und am letzten Morgen war Alfred in der Einfahrt, während Miss Greenshaw im Steingarten arbeitete - diesen Steingarten möchte ich mir eigentlich gern ansehen.«
»Willst du damit sagen, daß Mrs. Cresswell die Täterin war?«
»Ich glaube, die Sache verhält sich folgendermaßen. Nachdem Mrs. Cresswell dir den Kaffee gebracht hatte, schloß sie dich beim Verlassen des Zimmers ein und trug die bewußtlose Miss Greenshaw nach unten in den Salon. Dann verkleidete sie sich wieder als Miss Greenshaw und ging nach draußen, um im Steingarten zu arbeiten, wo du sie vom Fenster aus sehen konntest. Nach einer gewissen Zeit stieß sie einen Schrei aus und kam wankend auf das Haus zu, während sie mit den Händen einen Pfeil umklammerte und so tat, als habe er ihre Kehle durchdrungen. Sie rief um Hilfe, wobei sie sorgsam darauf achtete zu sagen: >Er hat auf mich geschossen<, um jeden Verdacht von der Haushälterin abzulenken. Sie rief auch einige Worte zum Fenster der Haushälterin hinauf, als habe sie sie dort gesehen. Sobald sie dann im Salon war, stieß sie einen Tisch mit Porzellan um und rannte flink nach oben, wo sie ihre Pompadourperücke aufsetzte und wenige Augenblicke später den Kopf zum Fenster hinausstreckte, um dir zu sagen, daß sie auch eingeschlossen sei.«
»Aber sie war tatsächlich eingeschlossen«, erinnerte Lou.
»Ich weiß. Aber da springt eben der Polizist ein.«
»Was für ein Polizist?«
»Ganz richtig - was für ein Polizist? Inspektor, dürfte ich Sie vielleicht bitten, mir zu sagen, wie und wann Sie am Tatort eingetroffen sind?«
Der Inspektor blickte ein wenig verdutzt drein.
»Um zwölf Uhr neunundzwanzig erhielten wir einen telefonischen Anruf von Mrs. Cresswell, Haushälterin bei Miss Greenshaw, mit der Meldung, daß ihre Herrin erschossen worden sei. Wachtmeister Cayley und ich fuhren sofort im Wagen dorthin und kamen um zwölf Uhr fünfunddreißig beim Hause an. Wir fanden Miss Greenshaw tot auf, und die beiden Damen waren in ihren Zimmern eingeschlossen.«
»Da siehst du es also, liebes Kind«, wandte sich Miss Marple an Lou. »Der Schutzmann, den du sahst, war gar kein richtiger Schutzmann. Du hast auch gar nicht mehr an ihn gedacht. Das ist ganz natürlich; auf eine Uniform mehr oder weniger kommt es in solchen Fällen nicht an.«
»Aber wer? Warum?«
»Wer? Nun, wenn sie in Boreham on Sea jetzt gerade das Stück A Kiss for Cinderella geben, spielt ein Polizist die Hauptrolle. Nat Fletcher brauchte sich nur die Uniform anzueignen, die er auf der Bühne trägt. Dann konnte er sich bei der Garage nach dem Weg erkundigen und dabei die Aufmerksamkeit auf die Zeit - zwölf Uhr fünfundzwanzig -lenken, rasch weiterfahren, den Wagen an der Ecke stehen lassen, sich seine Polizistenuniform überziehen und seine >Rolle< spielen.«
»Aber warum - warum?«
»Na, irgend jemand mußte doch die Tür der Haushälterin von außen zuschließen, und irgend jemand mußte den Pfeil Miss Greenshaw in den Hals stoßen. Man kann einen Menschen mit einem Pfeil ebensogut erstechen wie erschießen - dazu gehört aber Kraft.«
»Sie waren also beide daran beteiligt?«
»Oh, das ist anzunehmen. Mutter und Sohn, höchstwahrscheinlich.«
»Aber Miss Greenshaws Schwester ist doch schon vor langer Zeit gestorben.«
»Ja, aber Mr. Fletcher hat zweifellos wieder geheiratet. Nach den Schilderungen läßt sich das wohl annehmen. Ich halte es für durchaus möglich, daß das Kind ebenfalls starb und dieser sogenannte Neffe das Kind der zweiten Frau und somit überhaupt kein Verwandter von Miss Greenshaw ist. Die Frau bewarb sich um den Posten als Haushälterin und spionierte aus, wie die Dinge lagen. Dann schrieb der Sohn an Miss Greenshaw als ihr Neffe und schlug vor, ihr einen Besuch abzustatten -- vielleicht hat er im Scherz erwähnt, daß er in seiner Polizistenuniform erscheinen würde - oder er lud sie ein, sich das Stück anzusehen. Aber ich glaube, sie hat wohl den wahren Sachverhalt erraten und sich geweigert, ihn zu sehen. Er wäre ihr Erbe gewesen, wenn sie ohne Testament gestorben wäre.
Aber sobald sie ein Testament zugunsten der Haushälterin - wie sie annahmen - gemacht hatte, lag der Weg klar vor ihnen.«
»Aber warum haben sie dann einen Pfeil verwendet?« warf Joan ein. »Das scheint mir so gesucht.«
»Durchaus nicht, liebes Kind. Alfred gehörte zu einem Bogenschützenklub - und Alfred sollte die Schuld aufgehalst werden. Daß er schon um zwölf Uhr zwanzig das Gasthaus erreicht hatte, war von dem Standpunkt dieser beiden höchst unglückselig. Er ging ja immer ein wenig vor seiner eigentlichen Zeit fort, und das wäre gerade richtig für sie gewesen.« Kopfschüttelnd fügte sie hinzu: »Es erscheint wirklich ungerecht - im moralischen Sinne, meine ich natürlich - daß Alfreds Faulheit ihm das Leben gerettet hat.«
Der Inspektor räusperte sich.
»Nun, Madam, diese Ideen, die Sie da geäußert haben, sind ja hochinteressant. Ich werde sie natürlich nachprüfen müssen .«
Miss Marple und Raymond West standen neben dem Steingarten und blickten auf einen Gartenkorb mit welkender Vegetation hinab.
Miss Marple murmelte:
»Alyssum, Steinbrech, Geißklee, Wegerich, Glockenblumen ... Ja, das beweist mir genug. Wer gestern morgen hier gejätet hat, verstand von Gärtnerei überhaupt nichts. Sie hat Blumen und Unkraut ohne Unterschied herausgerissen. Nun weiß ich also, daß ich recht habe. Ich danke dir, lieber Raymond, daß du mich hierhergebracht hast. Ich wollte gern alles mit eigenen Augen sehen.«
Sie und Raymond betrachteten beide das überspannte Bauwerk, das im Volksmunde Greenshaws Monstrum hieß.
Hinter ihnen hustete jemand, und als sie sich umdrehten, entdeckten sie, daß ein hübscher junger Mann ebenfalls im Anblick des Hauses versunken war.
»Verteufelt großer Kasten«, meinte er. »Zu groß für heutige Verhältnisse - so sagt man wenigstens. Aber ich weiß nicht recht. Wenn ich das Große Los gewönne, würde ich mir auch ein Haus in dieser Art bauen.«
Er lächelte sie verschämt an.
»Ich glaube, ich kann es jetzt wohl sagen: Das Haus da ist von meinem Urgroßvater gebaut worden«, erklärte Alfred Pollock. »Und es ist ein schönes Haus trotz seines Spottnamens!«