Sie lächelte plötzlich. »Sie sehen also, Monsieur Poirot, daß ich allen Grund hatte, den Tod meines Vaters herbeizusehnen.«
»Ich sehe, Mademoiselle, daß Sie die Intelligenz Ihres Vaters geerbt haben.«
Nachdenklich meinte sie:
»Ja, Vater war klug. Man spürte in seiner Gegenwart die gewaltige Triebkraft, die in ihm steckte. Nur hatte sich alles in Kälte und Bitterkeit verwandelt. Alle menschlichen Gefühle waren atrophiert ...«
Hercule Poirot sagte leise vor sich hin: »Grand Dieu, was für ein Dummkopf war ich doch!«
Joanna Farley wandte sich zum Gehen.
»Möchten Sie sonst noch etwas wissen?«
»Zwei kleine Fragen. Diese Zange hier« - er nahm die Faulenzerzange in die Hand - »lag sie immer auf diesem Schreibtisch?«
»Ja. Vater bückte sich nicht gern.«
»Und nun die zweite Frage. Konnte Ihr Vater gut sehen?«
»Oh - er konnte überhaupt nicht sehen - ich meine, nicht ohne seine Brille. Seine Augen waren immer schlecht, schon von Kindheit an.«
»Aber mit der Brille?«
»Damit sah er natürlich ganz gut.«
»Konnte er Zeitungen und kleinen Druck lesen?«
»Doch, ja.«
»Das wäre alles, Mademoiselle.«
Sie verließ das Zimmer.
Poirot murmelte:
»Ich war ja dumm. Die ganze Zeit über hatte ich es direkt vor der Nase. Aber man sieht ja bekanntlich den Wald vor lauter Bäumen nicht.«
Noch einmal lehnte er sich aus dem Fenster. Da unten, auf dem schmalen Weg zwischen dem Haus und der Fabrik, sah er einen kleinen, dunklen Gegenstand.
Hercule Poirot nickte befriedigt und begab sich wieder nach unten.
Die anderen saßen immer noch in der Bibliothek, und Poirot wandte sich an den Sekretär.
»Mr. Cornworthy, ich möchte, daß Sie mir die näheren Umstände schildern, die mit Mr. Farleys Aufforderung an mich verknüpft waren. Wann hat Mr. Farley, zum Beispiel, den Brief diktiert?«
»Mittwoch nachmittag - gegen halb sechs, soweit ich mich erinnere.«
»Haben Sie besondere Anweisungen für das Absenden erhalten?«
»Er bat mich, ihn selbst in den Kasten zu werfen.«
»Und haben Sie das getan?«
»Ja.«
»Hat er dem Butler besondere Instruktionen für meinen Empfang erteilt?«
»Ja. Er ließ Holmes - so heißt der Butler - durch mich bestellen, daß er um neun Uhr dreißig den Besuch eines Herrn erwarte. Der Butler sollte sich nach dem Namen erkundigen und sich auch den Brief zeigen lassen.«
»Ziemlich seltsame Vorsichtsmaßregeln.«
Cornworthy zuckte die Achseln. »Mr. Farley«, sagte er gemessen, »war ein ziemlich seltsamer Mensch.«
»Erhielten Sie noch andere Anweisungen?«
»Ja. Er trug mir auf, den Abend für mich zu verbringen.«
»Haben Sie das getan?«
»Ja, ich bin sofort nach dem Essen ins Kino gegangen.«
»Wann sind Sie zurückgekehrt?«
»Gegen ein Viertel nach elf war ich wieder im Hause.«
»Haben Sie Mr. Farley an diesem Abend noch gesehen?«
»Nein.«
»Und am nächsten Morgen hat er die Angelegenheit auch nicht erwähnt?«
»Nein.«
Poirot ließ eine Pause eintreten und fuhr dann fort:
»Als ich kam, wurde ich nicht in Mr. Farleys eigenes Zimmer geführt.«
»Nein. Er ließ Holmes durch mich ausrichten, daß er Sie in mein Zimmer führen solle.«
»Warum eigentlich? Wissen Sie das?«
Cornworthy schüttelte den Kopf.
»Ich habe Mr. Farley nie nach dem Grund seiner Anordnungen gefragt«, sagte er trocken. »Das hätte er mir sehr übel genommen.«
»Hat er Besucher gewöhnlich in seinem eigenen Zimmer empfangen?«
»Meistens, aber nicht immer. Manchmal sprach er mit ihnen in meinem Zimmer.«
»War ein besonderer Grund dafür vorhanden?«
Hugo Cornworthy überlegte.
»Nein. Ich glaube kaum. Ich habe eigentlich nie darüber nachgedacht.«
Poirot wandte sich an Mrs. Farley.
»Gestatten Sie, daß ich nach Ihrem Butler klingle?«
»Gewiß, Monsieur Poirot.«
Sehr korrekt, sehr höflich erschien der Butler auf das Klingelzeichen hin. »Sie haben geläutet, Madam?«
Mrs. Farley deutete auf Poirot, und Holmes fragte höflich:
»Ja, Sir?«
»Wie lauteten Ihre Instruktionen, Holmes, am Donnerstag abend, als ich hierherkam?«
Holmes räusperte sich und sagte:
»Nach dem Essen sagte mir Mr. Cornworthy, daß Mr. Farley um neun Uhr dreißig einen Mr. Hercule Poirot erwarte. Ich sollte den Herrn nach seinem Namen fragen und mir diese Angaben durch das Vorzeigen eines Briefes bestätigen lassen. Dann sollte ich ihn in Mr. Cornworthys Zimmer bringen.«
»Hat man Ihnen auch aufgetragen, an die Tür zu klopfen?«
Ein Ausdruck des Mißfallens huschte über das Gesicht des Butlers.
»Das hatte Mr. Farley angeordnet. Ich sollte immer anklopfen, wenn ich Besucher brachte - das heißt, Besucher, die in geschäftlicher Angelegenheit kamen.«
»Ach so. Darüber hatte ich mir schon den Kopf zerbrochen. Hatten Sie sonst noch Anweisungen für mich erhalten?«
»Nein, Sir. Nachdem Mr. Cornworthy mir diese Anordnungen übermittelt hatte, ging er aus.«
»Um welche Zeit war das?«
»Zehn Minuten vor neun, Sir.«
»Haben Sie Mr. Farley nach dieser Zeit noch gesehen?«
»Ja, Sir. Um neun Uhr brachte ich ihm, wie üblich, ein Glas heißes Wasser.«
»War er da in seinem eigenen oder in Mr. Cornworthys Zimmer?«
»Er saß in seinem eigenen Zimmer, Sir.«
»Haben Sie irgend etwas Ungewöhnliches in seinem Zimmer bemerkt?«
»Etwas Ungewöhnliches? Nein, Sir.«
»Wo hielten sich Mrs. Farley und Miss Farley auf?«
»Sie waren ins Theater gegangen, Sir.« »Vielen Dank, Holmes, das ist alles.«
Holmes verbeugte sich und verließ das Zimmer. Poirot wandte sich an die Witwe des Millionärs.
»Noch eine Frage, bitte, Mrs. Farley. Hatte Ihr Gatte gute Augen?«
»Nein, ohne Brille konnte er nicht viel sehen.«
»War er sehr kurzsichtig?«
»O ja, ohne Brille war er ganz hilflos.«
»Besaß er mehrere Brillen?«
»Ja.«
»Aha«, sagte Poirot und lehnte sich im Sessel zurück. »Damit wäre der Fall wohl abgeschlossen.«
Im Raum herrschte tiefes Schweigen. Alle blickten auf den kleinen Mann, der da so selbstzufrieden im Sessel saß und seinen Schnurrbart zwirbelte. Im Gesicht des Inspektors malte sich Verwirrung. Dr. Stillingfleet runzelte die Stirn. Cornworthy starrte ihn verständnislos an. In Mrs. Farleys Blick lag ein verblüfftes Staunen. Joannas Augen sprachen von regem Interesse. Mrs. Farley brach das Schweigen.
»Ich verstehe Sie nicht, Monsieur Poirot.« Ihre Stimme klang verdrießlich. »Dieser Traum ...«
»Ja«, sagte Poirot. »Der Traum war sehr wichtig.«
Mrs. Farley erschauderte. Sie sagte:
»Bis dahin habe ich nie an übernatürliche Kräfte geglaubt, aber jetzt - Nacht für Nacht vorher davon zu träumen.«
»Es ist ungewöhnlich«, bemerkte Stillingfleet. »Wirklich höchst seltsam! Wenn wir uns nicht auf Ihr Wort verlassen könnten, Poirot, und wenn Sie es nicht aus dem Munde des Propheten selber hätten .« Er räusperte sich verlegen. »Ich bitte vielmals um Verzeihung, Mrs. Farley. Ich meine, wenn Mr. Farley die Geschichte nicht selbst erzählt hätte ...«
»Richtig«, warf Poirot ein. Seine bis dahin halbgeschlossenen Augen öffneten sich plötzlich weit. Sie schimmerten sehr grün.
» Wenn Benedict Farley es mir nicht gesagt hätte ...«
Er ließ eine kleine Pause eintreten und blickte sich im Kreise der verblüfften Gesichter um.