WOLFGANG HOHLBEIN
DIE CHRONIK DER UNSTERBLICHEN
DER UNTERGANG
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Hohlbein, Wolfgang:
Die Chronik der Unsterblichen /
Wolfgang Hohlbein. - Köln : vgs
Buch 4. Der Untergang. - 2002
ISBN 3-8025-2798-4
© vgs verlagsgesellschäft, Köln 2002 Alle Rechte vorbehalten.
Umschlaggestaltung: Alex Ziegler, Köln
Titelfoto: © Simon Marsden
Lektorat: Christina Deniz, Köln
Produktion: Simone Nauerth
Satz: Greiner 8c Reichel, Köln
Druck: Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany
ISBN 3-8025-2798-4
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DIE CHRONIK DER UNSTERBLICHEN
DER UNTERGANG
Alessa stand im Wasser des Flusses, das an dieser Stelle tief genug war, um ihr bis an die Kniekehlen zu reichen, und reißend genug, um kleine, schaumige Wirbel hinter ihren Beinen zu bilden. Sie hatte sich weit nach vorne gebeugt, damit sie sich mit beiden Händen Wasser ins Gesicht schöpfen konnte.
Ihre Haltung erfüllte Andrej mit leiser Sorge. Vermutlich war der Flussgrund mit glatt polierten Steinen bedeckt. Steine, auf denen ein einziger Fehltritt oder eine unbedachte Bewegung fast unweigerlich zu einem Sturz führen mussten. Das Wasser war nicht tief, weder dort, wo das Mädchen stand, noch weiter zur Mitte hin. Andrej konnte deutlich Steinformationen ausmachen, die in regelmäßigen Abständen aus dem Wasser ragten - offenbar eine von Menschenhand angelegte Furt, auf der man das Gewässer mit ein wenig Geschick trockenen Fußes überqueren konnte. Aber der Fluss besaß an dieser Stelle auch eine gefährliche Strömung, und Alessa war keine besonders gute Schwimmerin. Ich sollte hinunter gehen und sie warnen, dachte er, oder besser gleich ... »Andrej?« Abu Duns Stimme riss ihn aus seinen Gedanken.
Das Mädchen dort unten war nicht Alessa. Alessa war seit mehr als einem Jahr tot, und er sollte endlich aufhören, in jeder jungen Frau, die ihr auch nur entfernt ähnelte, die junge Unsterbliche zu sehen. Das Mädchen dort unten hatte nicht einmal Ähnlichkeit mit ihr. Es war deutlich jünger; ein Kind, das bald zur Frau werden würde. Es hatte glattes, bis auf die Schultern fallendes, rabenschwarzes Haar, während Alessa...
Andrej runzelte die Stirn. Er versuchte, sich an die Farbe von Alessas Teint zu erinnern, aber es gelang ihm nicht. Ebenso wenig, wie er sich an ihr Gesicht erinnern konnte. »Andrej, was treibst du da? Seit wann findest du Gefallen daran, dich im Gebüsch zu verstecken, um nackten Bauernmädchen beim Baden zuzusehen?«
»Sie ist nicht nackt!«, antwortete Andrej. Nach einem Moment fügte er seufzend hinzu: »Und nenn mich nicht Andrej!«
Abu Duns ebenholzfarbenes Gesicht verzog sich zu einem spöttischen Grinsen. »Ganz wie Ihr befehlt, Herr. Oder wäre Euch Sahib lieber?« Für einen Moment wurde sein Grinsen noch breiter, dann trat er an Andrejs Seite und sah mit gespielter Konzentration zum Fluss hin. »Ihr habt Recht, oh allergnädigster Herr und Meister. Sie ist nicht nackt.«
»Andreas«, sagte Andrej, ohne auf Abu Duns Worte einzugehen. »Wir hatten uns doch geeinigt, dass ich ab sofort Andreas heiße.«
»Ganz wie Ihr befehlt, oh Bewunderungswürdiger.« Abu Dun neigte demutsvoll das Haupt und tat so, als griffe er nach Andrejs Hand, um sie zu küssen. »Und wie habt Ihr in Eurer unermesslichen Weisheit beschlossen, mich in Zukunft zu nennen, oh Herr? Marianne vielleicht? Oder Theresa?«
»Auf jeden Fall werde ich nur respektvoll von dir sprechen«, erwiderte Andrej. »Du weißt doch: Man spricht nicht schlecht über Tote.«
Abu Dun feixte unbeeindruckt weiter, und Andrej ermahnte sich, das sinnlose Spiel nicht fortzuführen. Er konnte dabei nur verlieren.
Es war mehr als einen Monat her, dass er sich entschieden hatte, nicht mehr seinen ursprünglichen Namen zu benutzen, sondern die hier zu Lande gebräuchliche Form. Fremde erweckten in diesen Zeiten, die denkbar schlecht waren, deutlich mehr Misstrauen als Neugier. Und fremden Kämpfern, die aus dem Osten kamen - der Richtung, aus der sich der Krieg in das Land hineinfraß - wurde erst recht mit Argwohn begegnet. So war Andrej aus der Rolle des Kriegers, der durch das Land zog, in die des fahrenden Händlers und Kaufmanns geschlüpft; eine Verkleidung, die ebenso einfach wie unerwartet erfolgreich gewesen war. Was Abu Dun aber nicht daran hinderte, ihn deswegen zu verspotten.
»Wir sollten das Mädchen fragen«, sagte Andrej. »Vielleicht hat es was von den Zigeunern gehört. Sie müssen hier irgendwo sein!«
Ein ganzes Jahr suchten sie jetzt schon nach der Sinti-Sippe, von der Alessa erzählt hatte, ohne ihr bisher auch nur nahe gekommen zu sein. Sie hatten fast ein Dutzend Zigeunerfamilien gefunden, aber in keiner von ihnen lebte die Puuri Dan, die Alessa erwähnt hatte. Vielleicht jagten sie einem Phantom hinterher. Und manchmal fragte sich Andrej gar, ob es Alessa je gegeben hatte.
»Und warum?«, unterbrach Abu Dun seine Gedanken. »Wieso müssen sie in der Nähe sein, Andreas?« Er sprach den Namen wie Andreasch aus, zweifellos um ihn zu ärgern. »Allein, weil Ihr es so wünscht, oh Allererleuchtetster?«
Andrej schwieg dazu. Er hätte die Frage ohnehin nicht beantworten können. Jedenfalls nicht, ohne eingestehen zu müssen, dass Abu Dun Recht hatte. Stattdessen warf er dem riesenhaften Nubier einen verärgerten Blick zu und begann, den steinigen Hang hinabzugehen, der den Waldrand vom eigentlichen Flussufer trennte. Als er aus dem Schatten der Bäume hervortrat, spürte er die Berührung des Sonnenlichtes wie das Streicheln einer zarten Hand auf dem Gesicht. Obwohl es bald dunkel werden würde, hatte die Sonne noch Kraft, und es würde wahrscheinlich lange dauern, bis die Temperaturen auch nur auf ein halbwegs erträgliches Maß sinken würden. Der Sommer war noch entfernt, doch die Tage wurden jetzt schon fast unerträglich heiß. Das Mädchen stand gewiss nicht nur dort unten im Wasser, um im Spiel herumzuplantschen.
Andrej hatte sich dem Fluss bis auf weniger als fünf Schritte genähert, als das Mädchen seine Anwesenheit bemerkte. Dessen Reaktion fiel jedoch anders aus, als Andrej erwartet hätte. Die meisten Menschen, auf die er und Abu Dun trafen, reagierten misstrauisch, wenn nicht erschrocken oder gar mit offener Feindseligkeit auf ein unbekanntes Gesicht. Gastfreundschaft wurde auch in diesem Land hochgehalten, aber, das hatten Abu Dun und er schmerzlich erfahren müssen, einem Fremden Obdach zu gewähren und ihm zu vertrauen, das war nicht dasselbe. So hatten sie es schon mehr als einmal vorgezogen, unter freiem Himmel zu nächtigen, statt in einem Haus, dessen Bewohner keinen Hehl daraus machten, dass sie die Gäste lieber gehen als kommen sahen.
Das schwarzhaarige Mädchen jedoch zeigte keine Furcht. Als es auf das Geräusch seiner Schritte aufmerksam wurde, fuhr es hoch und sah für einen kurzen Moment gleichermaßen verlegen wie ertappt aus. Dann jedoch erschien ein neugieriges Funkeln in seinen Augen, und ein Lächeln auf seinem Gesicht, in dem Andrej vergeblich nach einer Spur von Scheu suchte.
»Oh!«, sagte es schließlich. »Ich habe Euch gar nicht kommen hören.«
Mehr noch als sein Aussehen, machte die Stimme des Mädchens Andrej klar, dass er tatsächlich noch ein Kind vor sich hatte. Elf, allerhöchstens aber zwölf Jahre alt, vermutlich sogar jünger. Sein Körper, der unter dem vollkommen durchnässten Kleid deutlich zu erkennen war, zeigte schon die ersten weiblichen Rundungen, aber sein Gesicht, und vor allem seine Stimme, gehörten eindeutig einem Kind.