»Nein«, antwortete Andrej. »Aber euer Wein hat es in sich. Morgen früh ist er wieder ganz der Alte.«
Rason nickte. »Dann wird Elena dich begleiten. Sie wollte sowieso mit dir sprechen.«
»Elena?«
»Meine Schwester.« Rason deutete an die Spitze des Zugs. »Du hast sie heute Morgen kennen gelernt. Bisher hat sie sich um unsere Vorräte und den Verkauf unserer Waren gekümmert. Laurus meint, sie könnte dir zeigen, wie wir handeln.«
Andrej war nicht ganz sicher, was ihn mehr überraschte: Die Tatsache, dass die Frau, die er für Rasons Mutter gehalten hatte, dessen Schwester war, oder Laurus' überraschendes Ansinnen.
»Du musst wissen, was wir brauchen, und wie viele ...«
»Das ist mir klar«, unterbrach ihn Andrej. »Aber dieser Vorschlag überrascht mich. Bisher habe ich doch noch gar nicht entschieden, wie lange ich bei euch bleibe, oder ob überhaupt. Immerhin kennen wir uns erst seit gestern. Und heute Morgen hatte ich den Eindruck, dass dein Vater uns lieber gehen als kommen sieht.«
»Laurus ist misstrauisch«, gestand Rason. »Wir haben viel Schlechtes mit Fremden erlebt, das musst du verstehen.«
»Und du nicht?«
»Ob ich es verstehe oder ob ich misstrauisch bin?« Rason lachte. »Du solltest dich beeilen. Elena ist keine sehr geduldige Frau. Sie wartet nicht gerne. Schon gar nicht auf einen Mann.«
Andrejs Rolle, die Laurus ihm bei den Verhandlungen zugedacht hatte, beschränkte sich zumindest für diesen Tag aufs Zuhören.
Sie waren eine gute Weile in scharfem Tempo geritten, um die nächste Stadt zu erreichen, die anders als Honsen, diese Bezeichnung auch verdiente. Andrej hatte nach dem Namen des Orts gefragt, aber Elena hatte nur mit einem Lächeln geantwortet; so, wie sie den meisten seiner Fragen nur mit einem Lächeln oder mit einem Achselzucken begegnete. Auf dem gesamten Weg hatte sie keine zehn Sätze mit ihm gewechselt, ein Verhalten, das eigentlich dazu angetan gewesen wäre, Andrej zu verärgern. Aber sonderbarerweise war es mit Elena wie mit ihren Brüdern: Obwohl Andrej so gut wie nichts über sie wusste, mochte er sie auf Anhieb. So nutzte er die langen Pausen zwischen den immer wieder begonnenen Gesprächen, um die Zigeunerin aufmerksamer als am Morgen zu mustern. Hätte Rason ihm nicht gesagt, wer sie war - und warum sollte dieser ihn diesbezüglich belügen? -, hätte er auch jetzt, da er sie im hellen Tageslicht sah, nicht gewusst, ob er sie für Rasons Schwester oder Mutter halten sollte. Manchmal wirkte sie wie ein Mädchen, das kaum älter als achtzehn Jahre alt zu sein schien, dann wieder strahlte sie eine sonderbare Reife aus, etwas, das deutlich mehr Lebenszeit voraussetzte, auch wenn man sie ihr nicht ansah. Natürlich blieben seine Blicke Elena nicht verborgen. Auch das war etwas, das Andrej in zunehmendem Maße verwirrte: Er konnte nicht sagen, ob ihr die Musterung, der er sie immer unverhohlener unterzog, angenehm, unangenehm oder gar gleichgültig war.
Elenas Schweigsamkeit jedenfalls endete schlagartig, als sie die Stadt erreichten. Mit knappen Worten hatte sie Andrej angewiesen, stets in ihrer Nähe zu bleiben und zuzuhören -, und es sollte einiges folgen, was zu sehen und vor allem zu hören sich lohnte. Elena fand zielsicher genau die Händler und Kaufleute, die sie suchten, und Andrej kam aus dem Staunen nicht mehr heraus, als er die unglaubliche Wandlung beobachtete, die mit der zierlichen Sinti-Frau vor sich ging. Elena feilschte und handelte, dass es eine Freude war, ihr dabei zuzusehen. Und Andrej fragte sich zweifelnd, ob er die Rolle des fahrenden Händlers, in die er seit einiger Zeit geschlüpft war, tatsächlich weiterspielen sollte. Schon bald stapelten sich auf der Ladefläche ihres Wagens Kisten, Säcke, Beutel und Fässer mit nahezu allem, was drei Dutzend Menschen und ihre Pferde für eine Woche brauchten.
Jetzt saßen sie in einem kleinen Gasthaus unmittelbar am Marktplatz, und Andrej musterte den grauhaarigen Burschen, der ihm gegenübersaß und mit dem sie verhandelten. In den letzten Minuten hatte sich die Farbe seines Gesichts zunehmend der des struppigen Haars angepasst, von dem es eingerahmt wurde. Der Ausdruck in den von Falten belagerten Augen grenzte an blankes Entsetzen.
»Eine Wagenladung Mehl«, sagte Elena zum wiederholten Mal mit unschuldigem Lächeln. »Dreißig Säcke, beste Qualität. Und Ihr liefert sie bis spätestens morgen Abend in unser Lager. Das ist mein Angebot.« Sie machte eine Kopfbewegung auf die perfekt ausgerichtete Reihe blitzender Kupfermünzen, die sie vor sich auf der Tischplatte ausgelegt hatte.
Der graugesichtige Bäcker fuhr sich mit dem Handrücken übers Kinn. Er hatte sich gut genug in der Gewalt, um die Geldstücke nicht gierig anzustarren. »Dabei komme nicht einmal ich auf meine Kosten!«, jammerte er. »Ich muss einen Wagen zur Mühle hinausschicken und einen Mann abstellen, vielleicht sogar zwei, und das für einen ganzen Tag.«
»Wir können auch selbst zum Müller fahren und mit ihm verhandeln«, unterbrach ihn Elena, während sie bereits die Hand nach den Geldstücken ausstreckte. »Dann verdient Ihr allerdings nichts dabei.«
»Warte!«, sagte der Bäcker hastig. Elenas Hand schwebte reglos über den Münzen. Sie lächelte ihr Gegenüber fragend an. »Also gut«, murrte der Bäcker schließlich. »Aber die Anlieferung kostet extra, sonst zahle ich drauf.«
Was er Andrejs Meinung nach ohnehin schon tat. Die Summe, die Elena vor sich auf dem Tisch abgezählt hatte, erschien ihm viel zu niedrig - wie Elena an diesem Vormittag überhaupt alles erstaunlich günstig erstanden hatte. Hätte er auf der anderen Seite des Tisches gesessen, so wäre er längst aufgestanden und gegangen.
»Nein«, antwortete Elena. »Meine Kasse gibt leider nicht mehr her.«
Der Bäcker blinzelte.
»Und Ihr wollt doch nicht, dass mein Mann mich schlägt, weil ich zu viel Geld ausgegeben habe, oder?«, fuhr sie fort. »Aber ich mache Euch einen anderen Vorschlag: Warum liefert Ihr die Ware nicht selbst aus? Auf diese Weise spart Ihr die Kosten für den Fahrer, und Ihr könntet Eure Frau mitbringen und Eure Kinder, falls Ihr welche habt, um den Abend bei uns zu verbringen. Wir führen ein Schauspiel auf, und wir haben einen Schwertschlucker und Jongleure ... Es wird Euch gefallen.«
Etliche Sekunden starrte der Bäcker Elena durchdringend an, und er machte dabei ein Gesicht, als würden ihm glühende Nadeln unter die Fingernägel getrieben. Dann konnte Andrej fühlen, wie sein Widerstand brach.
»Also gut«, seufzte er. »Ich weiß zwar selbst nicht, warum ich das tue, aber wir sind uns einig.« Er stand auf und wollte sich gerade über den Tisch beugen, um das Geld einzustreichen, als Elena den Kopf schüttelte und die Münzen so schnell in ihrem Geldbeutel verschwinden ließ, als hätte sie sie weggezaubert.
»Zahlung bei Lieferung«, sagte sie. »Geld gegen Ware, so ist es doch bei Euch üblich, oder?«
In den Augen des Bäckermeisters blitzte für einen Moment die Wut auf, und Andrej spannte sich instinktiv. Aber der Zorn verrauchte so schnell, wie er gekommen war.
»Verdammtes Zigeunerpack!«, stieß er zwischen den Zähnen hervor. Aber es war eher ein Ausdruck von Hilflosigkeit als eine Beleidigung. Wieder starrte er Elena einen Moment lang an, dann fuhr er auf dem Absatz herum und stürmte aus dem Gasthaus, als wären sämtliche Dämonen des Fegefeuers hinter ihm her. Andrej blickte ihm kopfschüttelnd nach.
»Beinahe könnte er einem ja Leid tun«, sagte er.
Elena lachte. »Er ist ein Dummkopf. Dummköpfe tun mir nicht Leid.« Sie hob die Hand und winkte den Wirt heran. »Noch zwei Becher Bier!«
»Haben wir etwas zu feiern?«, erkundigte sich Andrej.
»Ein gutes Geschäft«, erwiderte Elena. »Ich hab kaum die Hälfte von dem ausgegeben, was mit Laurus abgesprochen war. Das könnte man einen Grund zum Feiern nennen, oder?«
Andrej nickte, sagte aber trotzdem: »Wieso kann ich mich des Eindruckes nicht erwehren, dass du immer so gute Geschäfte abschließt?«