Andrej drehte sich nicht sofort um, sondern verwandte einen Augenblick darauf, die Reaktionen auf den Gesichtern seiner Gegenüber auf die Stimme zu beobachten, die plötzlich hinter ihnen laut geworden war. Was er sah, sprach Bände: Die Mienen der beiden Jungen wirkten gleichermaßen erschrocken wie erleichtert, während ihr Vater irgendwie bestürzt aussah. Andrej wandte sich um und maß den Neuankömmling mit einem aufmerksamen Blick.
Er war nicht einmal überrascht, einen hoch aufgeschossenen, hageren Mann in einer schlichten braunen Mönchskutte zu erblicken. Nichts an dem Geistlichen war auffällig, abgesehen vielleicht von seinen Augen, die sich bemühten, freundlich in die Welt zu blicken, an deren Grund jedoch Misstrauen und Bitterkeit lauerten. Andrej spürte, dass von diesem Mann keine unmittelbare Gefahr ausging, er aber dennoch gut beraten war, sich jedes weitere Wort genau zu überlegen.
»Bruder Flock!« Der Krämer begann, unbehaglich von einem Fuß auf den anderen zu treten und wusste plötzlich nicht mehr, wohin mit seinem Blick. »Wir haben ... nur eine kleine Meinungsverschiedenheit.«
Der Mann in der Mönchskutte runzelte die Stirn, was sein Gesicht ernsthafter und älter erscheinen ließ. Kurz maß er den Krämer mit einem durchdringenden Blick, dann beugte er den Körper und sah Andrej an. Schließlich räusperte er sich und sagte: »Das sah mir aber gar nicht danach aus. Wer seid Ihr?«
»Mein Name ist Andreas«, antwortete Andrej. »Andreas Delany. Und der gute Mann hat Recht: Es ist nur ein kleines Missverständnis, das eigentlich schon fast geklärt ist.«
»Seid Ihr ein gläubiger Christenmensch und lest Ihr die Bibel, Freund Andreas?«, fragte Flock.
Andrej blinzelte. »Warum fragt Ihr?«
Auf dem glatten Gesicht seines Gegenübers erschien ein schwaches Lächeln. »Weil Ihr dann wissen solltet, dass es eine Sünde ist, zu lügen«, antwortete Flock. »Auch wenn ich nicht glaube, dass Ihr für eine solche Kleinigkeit schon im Höllenfeuer schmoren werdet. Aber man kann nie wissen. Eins kommt zum anderen.«
Es fiel Andrej schwer, zu entscheiden, ob das nur das Geplapper eines beflissenen Pfaffen oder eine versteckte Drohung war. Besser, er ging von Letzterem aus. So wenig er die Männer der Kirche mochte, so sehr hatte er gelernt, vor ihnen auf der Hut zu sein, auch wenn sie sich die Maske der Freundlichkeit vorhielten. »Ihr habt Recht«, räumte er mit einem Lächeln ein. »Ich entschuldige mich. Wir hatten in der Tat einen kleinen Disput. Aber wie gesagt - er ist schon beinahe beigelegt.«
»Dann wird es Euch nichts ausmachen, mir zu sagen, worum es dabei ging?«
Das machte Andrej allerdings etwas aus, aber noch bevor er antworten konnte, kam ihm einer der Krämersöhne zuvor.
»Er gehört zu der Hexe, die unseren Vater verzaubert hat«, sagte der Junge. »Wahrscheinlich ist er ein Mörder, der nur auf einen Vorwand wartet, um uns die Kehle durchzuschneiden.«
Es kostete Andrej einiges an Überwindung, sich nicht zu dem Jungen umzudrehen und ihn mit einem einzigen Blick in seine Schranken zu weisen. Stattdessen behielt er weiter Flock im Auge, und was er sah, bestätigte ihn in seiner ersten Einschätzung: Der Geistliche hatte sich hervorragend in der Gewalt. In seinem Gesicht rührte sich kein Muskel, aber die Düsternis in seinem Blick schien zuzunehmen, und Andrej spürte die grimmige Befriedigung des Mannes, seinen tief sitzenden Glauben an das Schlechte im Menschen bestätigt zu sehen.
Doch überraschenderweise lächelte Flock plötzlich und wandte sich mit sanfter Stimme an den Jungen. »Eine Hexe, die deinen Vater verzaubert hat?«, fragte er. »Mit solchen Worten sollte man vorsichtig sein, mein Kind. Sie sind rasch ausgesprochen, aber nur schwer wieder zurückzunehmen. Und sie können viel Unheil anrichten.«
»Hört nicht auf meinen Sohn«, lenkte der Krämer ein. Seine Stimme zitterte. »Er ist ein dummer Bengel, der nicht weiß, was er sagt.«
»Dann sagt Ihr es mir«, verlangte Flock.
Der Krämer wand sich einen Moment, doch bevor er antworten konnte, flog die Tür der Gaststube auf, und Elena trat hinaus. Sie musste wohl einen Teil des Gespräches mitangehört haben, denn sie bedachte sowohl den Krämer und seine Söhne als auch den Geistlichen mit Blicken, die nicht die Spur von Überraschung zeigten. »Vielleicht kann ich Eure Frage beantworten, Hochwürden.«
»Bruder reicht«, erwiderte Flock. »Ich bin nur ein geringer Diener des Herrn.«
»Sind wir das nicht alle, gleich, welchen Titel und Rang wir auf Erden auch bekleiden?«, gab Elena zurück. »Wie dem auch sei, Andreas und ich haben heute Morgen Waren bei diesem guten Mann erstanden, und anscheinend ist er mit dem ausgemachten Preis nicht einverstanden.«
»Ist das wahr?«, fragte Flock.
»Preis?«, schnaubte der Krämer. Er hatte nicht den Mut, Elena oder dem Geistlichen in die Augen zu sehen, stattdessen funkelte er Andrej böse an. »Was dieses Weib einen Preis nennt, ist ein Witz! Sie hat die Hälfte von dem bezahlt, was ich selbst für die Waren gegeben habe!«
»Nun, das dürfte ein wenig übertrieben sein«, sagte Elena mit einem angedeuteten Lächeln, »aber ich muss gestehen, dass ich selbst ein wenig erstaunt war. Ich habe ein Angebot gemacht, und er ist sofort darauf eingegangen, ohne auch nur zu handeln.«
»Unsinn!«, stieß der Krämer hervor. »Sie hat mich ... verhext!«
Andrej bemerkte, wie schwer es dem Mann fiel, dieses Wort auszusprechen, und für einen Moment schwebte es über ihnen wie ein Beil, das jeden Moment auf sie herabzusausen drohte. Es war - ganz wie Flock gesagt hatte -, etwas, das einmal heraufbeschworen, Unheil anzurichten vermochte. Andrej spannte sich. Er glaubte - er hoffte - immer noch nicht, dass es wirklich zu einer tätlichen Auseinandersetzung kommen würde, aber die Situation begann eindeutig aus dem Ruder zu laufen.
Der Geistliche reagierte jedoch anders als erwartet. Sein Blick ruhte einen Moment auf Elena, und ein dünnes, aber durchaus ehrliches Lächeln umspielte seinen Mund. »Nun, wenn ich mir dieses prachtvolle Weib so ansehe«, sagte er, »dann kann ich mir durchaus vorstellen, wie seine Hexerei ausgesehen haben mag. Ich bin ein Diener des Herrn und habe das Gelübde abgelegt, doch auch ich wurde als Mann geboren. Seid Ihr ganz sicher, Krämer, dass Ihr nicht nur ihren schönen Augen und ihrer Anmut erlegen seid?«
Der Mann antwortete nicht, sondern starrte Flock mit sichtlich wachsender Verzweiflung an. »Ich ... war meinem Weib immer treu«, stammelte er. »Und ich habe nie ...«
»Das habe ich auch nicht bezweifelt«, unterbrach ihn Flock. »Glaubt mir, Gott im Himmel hat uns nicht so erschaffen wie wir sind, um uns dann für das zu bestrafen, was wir sind. Es ist nur natürlich, dass ein Mann den Reizen einer schönen Frau erliegt und dann vielleicht das eine oder andere tut, was er sonst nicht tun würde.« Seine Stimme wurde eine Spur schärfer. »Aber er hat uns nicht erschaffen, auf dass wir lügen und hinterher andere für unsere eigenen Schwächen verantwortlich machen.«
Andrej verschlug es die Sprache. Nach allem, was er mit den Vertretern des Klerus erlebt hatte, war sein Vertrauen in die Kirche zutiefst erschüttert. Doch Bruder Flocks Auftreten schien dazu angetan, dass er sein vernichtendes Urteil noch einmal überdachte.
Auch der Krämer war offensichtlich verstört. Sekundenlang fixierte er den Geistlichen aus ungläubig aufgerissen Augen. Dann begann er zu stammeln. »Aber das ... Ihr könnt doch nicht... ich meine ...«
»Ich meine, dass es an der Zeit für eine Entschuldigung ist«, unterbrach Flock ihn sanft, aber doch nachdrücklich. Er wandte sich an Andrej. »Bitte urteilt nicht vorschnell, Andreas. Dies ist eine freundliche Stadt, und ihre Menschen bringen Fremden gegenüber gewöhnlich Gastfreundschaft und Offenheit entgegen, kein Misstrauen.«
»Das habe ich auch nicht angenommen«, antwortete Andrej noch immer verwirrt. Er rettete sich in ein Lächeln. »Und in gewissem Sinne hat der arme Mann ja Recht. Er ist nicht der Erste, der Elenas Zauber erliegt.«