Andrej deutete nach Osten. »In diese Richtung?«
»Dein Pferd ist schon gesattelt«, sagte Rason. Andrej sah ihn erstaunt an, und der junge Zigeuner fuhr mit einem Lächeln fort: »Ich hab mir gedacht, dass du so reagieren würdest.«
»Du hast ganz vergessen, mir zu erzählen, dass du Gedanken lesen kannst«, sagte Andrej.
»Das kann ich nicht«, widersprach Rason ernst. »Aber bei den meisten Leuten ist es nicht schwer, sie zu erraten. Man muss nur genau beobachten.«
»Über diesen Trick müssen wir noch reden«, sagte Andrej, »aber erst, wenn ich zurück bin. Wo genau hast du mein Pferd gesattelt?«
»Auf dem Rücken«, witzelte Rason. »Ich hab's hinter unserem Wagen angebunden. Ach ja, bei Einbruch der Dunkelheit essen wir. Wenn ihr was abhaben wollt, solltet ihr bis dahin zurück sein.«
Er musste fast eine Stunde reiten, bevor er Abu Dun fand. Er war den Weg zurückgeritten, den der Tross am Morgen genommen hatte, und dann ein gutes Stück in den Sumpf hinein, durch den sich die schmale Straße schlängelte.
Andrej hatte sehr mit sich gerungen, ob er das Lager überhaupt verlassen sollte, um nach dem Nubier zu suchen. Tatsache war, dass er sich über ihn geärgert hatte. Obwohl Abu Dun der vielleicht einzige Mensch war, den er mit Fug und Recht als seinen Freund bezeichnen konnte, war er zugleich auch derjenige, der Andrej am leichtesten mit nur wenigen Worten zur Raserei treiben konnte. Er dachte an das Gespräch, das sie am Morgen geführt hatten. Er hatte die Trauer in Abu Duns Stimme gehört und den Schmerz in seinen Augen gelesen.
Als er den hünenhaften Schwarzen schließlich entdeckt hatte, beeilte er sich nicht, zu ihm zu gelangen. Es war noch nie Andrejs Sache gewesen, sich zu entschuldigen. Heute aber hatte er regelrecht Angst davor, dem Freund gegenüberzutreten.
Abu Dun war von seinem Pferd gestiegen und ein gutes Stück von der Straße abgewichen - ein Umstand, der Andrej mit Sorge erfüllte. Der ehemalige Sklavenhändler war zwar durchaus in der Lage, auf sich selbst aufzupassen, doch trotz all der Zeit, die sie jetzt gemeinsam unterwegs waren, war Andrej nicht sicher, ob der Araber wusste, wie gefährlich das Moor sein konnte. So unterdrückte er den Impuls, ihm eine Warnung zuzurufen - die Reaktion darauf konnte er sich lebhaft vorstellen -, lenkte sein Pferd neben das des hünenhaften Schwarzen, das am Wegesrand stand, und stieg ab. Er hatte nicht bemüht, leise zu sein, und Abu Dun hätte ihn längst bemerkt haben müssen, doch der Nubier tat so, als wäre dies nicht der Fall. Vielmehr war sein Blick unverwandt zu Boden gerichtet. Offensichtlich suchte er etwas.
Andrejs Blick fiel auf das Pferd des Freundes. Es war gesattelt und aufgezäumt, trug jedoch kein Gepäck, wie er erleichtert feststellte. Offensichtlich hatte Abu Dun nicht vorgehabt, für immer fortzugehen.
Vorsichtig, stets genau den Fuß in die flachen Spuren setzend, die Abu Dun hinterlassen hatte und die sich hie und da bereits mit ölig schimmerndem Wasser füllten, folgte er dem Nubier. Als er ihn fast eingeholt hatte, blieb er stehen und wartete darauf, dass Abu Dun endlich Notiz von ihm nahm. Doch der tat ihm den Gefallen nicht, sondern spielte weiter den Beschäftigten, der aufmerksam den Boden vor sich absuchte.
»Das ist kindisch«, sagte Andrej schließlich.
»Was?« Abu Dun hob weder den Blick, noch drehte er sich um. »Das, was wir tun«, antwortete Andrej. »Wir beide.«
»Wenn du versucht hast, dich unbemerkt an mich heranzupirschen, Hexenmeister, dann bist du wirklich kindisch«, erwiderte Abu Dun.
»Das habe ich nicht gemeint!«, erwiderte Andrej verärgert. »Und ich glaube, das weißt du auch.«
Endlich wandte sich Abu Dun zu ihm um - in einer derart blitzartigen Bewegung, dass Andrej sich zusammenreißen musste, um nicht erschrocken zurückzuweichen. Die Augen des Schwarzen funkelten. »Bist du gekommen, um mir Vorwürfe zu machen?«
»Nein«, antwortete Andrej so ruhig er konnte. »Ich bin gekommen, um mit dir zu reden.«
Abu Dun schürzte die Lippen. Er sah zugleich wütend und verlegen aus. »Also?«, sagte er schließlich. »Ich höre.«
Andrej schüttelte den Kopf. »So geht das nicht.« Er machte eine Geste zur Straße hin. »Lass uns zum Weg zurückgehen. Aber vorsichtig.«
»Warum?«
Andrej seufzte. »Was du hier tust, ist nicht sehr klug. Ich dachte, du wüsstest das.«
»Vielleicht gefällt es mir ja, nicht klug zu sein«, gab Abu Dun trotzig zurück.
»Gefällt es dir auch, zu ertrinken?«, fragte Andrej ruhig.
»Ertrinken?«
»Du kennst offenbar die Tücken des Moores nicht«, erklärte Andrej. »Aber du weißt doch sicher, was Treibsand ist?«
Abu Dun erbleichte unter seiner nachtschwarzen Haut. »Treibsand gibt es nur in der Wüste«, flüsterte er unsicher.
»Und hier gibt es das Moor. Es sieht zwar anders aus, aber die Wirkung kann die gleiche sein. Glaube mir.«
Diesmal widersprach Abu Dun nicht, sondern er folgte Andrej schweigend, als dieser sich umdrehte und - sorgsam die Füße wiederum in seine eigenen Spuren setzend - zum Weg zurückging. Andrej glaubte zwar nicht, dass sie tatsächlich in Gefahr waren. Der Boden war zwar leicht sumpfig und federte sacht unter ihrem Gewicht, doch er war fest genug, um sie zu tragen. Dennoch atmete er erleichtert auf, als sie wieder neben den Pferden angelangt waren.
»Du hättest mich warnen können«, meinte Abu Dun vorwurfsvoll.
»Das hätte ich sicher auch getan, hättest du mir gesagt, dass du fortgehst und wohin«, erwiderte Andrej. Den Rest dessen, was er eigentlich hatte sagen wollen, schluckte er im letzten Moment herunter. Er war nicht gekommen, um mit Abu Dun zu streiten, sondern um sich mit ihm auszusprechen. Daher fuhr er in scherzhaftem Ton fort: »Was hattest du überhaupt vor? Wolltest du einen kleinen Spaziergang unternehmen, weil die Gegend so hübsch ist?« Abu Dun lachte nicht. »Ich habe nach Spuren gesucht«, erklärte er. »Und sie gefunden.«
»Spuren?«
»Sehr kleine Spuren.«
Es dauerte einen Moment, bis Andrej begriff, worauf der Nubier hinaus wollte. »Du glaubst, dass sie uns verfolgen?«, fragte er zweifelnd. »Diese Kinder?«
»Das glaube ich nicht. Ich weiß es.«
»Woher?«
»Ich kann sie spüren«, sagte Abu Dun. »Ich dachte, dass es dir genauso geht. Wie dem auch sei: Ich habe Spuren gefunden. Hier, und ein Stück weiter den Weg hinauf.« Er machte eine entsprechende Kopfbewegung und schien darauf zu warten, dass Andrej irgendetwas dazu sagte, aber der sah den Freund nur weiter zweifelnd an. Es war nicht so, dass er Abu Dun nicht glaubte. Wenn der Nubier sagte, er hätte Spuren gesehen, dann waren dort auch Spuren. Aber dies alles schien irgendwie keinen Sinn zu ergeben.
»Selbst wenn du Recht hättest ...«, begann er schließlich, wurde aber sogleich unterbrochen.
»Vielleicht sollten wir deine neuen Freunde fragen«, grollte der Nubier. »Ich bin sicher, sie wissen mehr darüber, als sie zugeben.«
Andrej seufzte. Also waren sie wieder beim alten Thema. »Sie sind nicht meine Freunde«, sagte er leise. »Und ich bin nicht sicher, ob sie das irgendwann sein werden.«
»Du wirst es schon herausfinden. Hat sie dir gefallen?«
»Wer?«
»Die Zigeunerin, mit der du weggeritten bist«, antwortete Abu Dun. »Sie ist eine hübsche Frau, das muss ich zugeben.«
»Und sie ist Laurus' Frau«, ergänzte Andrej. »Selbst wenn ich mehr für sie empfinden würde als nur Sympathie, hätte ich gewiss Besseres zu tun, als mir den Zorn eines ganzen Sinti-Clans zuzuziehen.«
»Seit wann hat dich das je abgehalten?« Abu Dun lachte abfällig. »Wenn ich mich recht erinnere, hattest du auch kein Problem damit, dir den Zorn eines ganzen türkischen Heeres zuzuziehen.«
»Und den des mächtigen und gefürchteten Abu Dun, König der Piraten und Sklavenhändler, nicht zu vergessen«, spottete Andrej.