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»Nicht zu vergessen«, wiederholte Abu Dun ernst.

Andrej setzte zu einer wütenden Antwort an, beließ es dann aber dabei, einige Sekunden lang die Kiefer so fest aufeinander zu pressen, dass Abu Dun wahrscheinlich das Knirschen seiner Zähne hören konnte, und drehte sich abrupt um. Mit geschlossenen Augen zählte er im Geiste bis zehn, dann atmete er hörbar aus und wandte sich langsam wieder um. Abu Dun stand in unveränderter Haltung vor ihm und blickte ihn an. In seinem Gesicht hatte sich kein Muskel gerührt.

»Also gut«, sagte Andrej, schärfer, als er beabsichtigt hatte, aber auch außer Stande, weiter Geduld zu heucheln, wo keine war. Er hatte bis zu einem gewissen Maß Verständnis für Abu Duns Gefühle und dessen Misstrauen. Aber dieses Maß war nun voll, und er kannte den Freund gut genug, um zu wissen, dass er nichts gewann, wenn er ihm gegenüber immer wieder nachgab. »Ich dachte, wir könnten vernünftig miteinander reden, aber es geht auch anders. Was du heute Morgen gesagt hast -«

»Wenn du darauf wartest, dass ich mich entschuldige, verschwendest du deine Zeit, Hexenmeister«, sagte Abu Dun kalt.

»Das habe ich nicht erwartet«, sagte Andrej wahrheitsgemäß. »Ich habe über deine Worte nachgedacht, und ich muss dir sagen, du irrst dich. Ich habe nicht vor, bei diesen Leuten zu bleiben.«

»Es wäre deine Entscheidung«, sagte Abu Dun. Seine Miene war noch immer völlig unbewegt, und seine Stimme so bar jeder Emotion, dass allein ihr Ton die Worte Lügen strafte.

»Das ist richtig«, sagte Andrej. »Es ist meine Entscheidung. Und ich habe mich entschieden, nicht bei ihnen zu bleiben.«

»So schnell?« Abu Dun klang zweifelnd und auch irgendwie amüsiert. »Nach nur wenigen Stunden?«

»Ich hatte nie vor, den Rest meines Lebens als Zigeuner zu verbringen«, gab Andrej zurück. »Aber ich werde für eine Weile bei ihnen bleiben, ja. Einige Tage, vielleicht auch Wochen oder Monate.« Er hob die Schultern. »So lange, bis ich weiß, was ich wissen muss.«

Abu Dun nickte nachdenklich, wenngleich immer noch mit völlig ausdruckslosem Gesicht. »Anka hat dir nicht gesagt, was du hören wolltest«, sagte er. Zum ersten Mal in diesem Dialog stahl sich die Andeutung eines Gefühls auf seine Züge: ein flüchtiges, leicht gequält wirkendes Lächeln. »Ich gebe zu, ich erinnere mich nicht mehr ganz genau an unser Gespräch, aber es war -«

»Nicht das, was ich hören wollte«, sagte Andrej, »du hast Recht. Aber ich bin sicher, sie weiß mehr, als sie mir verraten hat. Ich muss noch einmal mit ihr reden. Vielleicht heute, vielleicht auch zu einem späteren Zeitpunkt.«

»Und dazu brauchst du meine Erlaubnis?«

Andrej begriff, dass Abu Dun ihn bewusst reizte. Nicht, um ihn freundschaftlich zu necken, wie er es so oft tat, sondern wahrscheinlich mit der erklärten Absicht, einen Streit vom Zaun zu brechen. Doch warum?

»Nein«, sagte er. »Aber ich möchte nicht, dass du etwas tust, was du später vielleicht bedauerst. Ich werde eine Weile bei diesen Leuten bleiben, und ich bitte dich, dasselbe zu tun. Du bist ihnen ebenso willkommen wie ich.«

Plötzlich lachte Abu Dun; ein rauer, fast böse klingender Laut, der Andrej ärgerte. »Du bittest mich?«, fragte er spöttisch. »Der große Andrej Delany, der unbesiegbare Schwertkämpfer und Unsterbliche, bittet mich um etwas?« Der Nubier schüttelte den Kopf. »Das ich das noch erleben darf!«

»Ich werde nicht vor dir auf die Knie fallen und deine schmutzigen Füße küssen«, sagte Andrej. »Aber ja, ich meine es Ernst. Ich bitte dich darum, dich einfach für eine Weile zu gedulden, Nur so lange, bis ich herausgefunden habe, was ich wissen will.«

»Du bist wirklich entschlossen, wie? Aber was, wenn dir das, was du am Ende herausfindest, nicht gefällt?«

»Das Risiko muss ich eingehen«, sagte Andrej. »Genau wie du auch.«

»Ja, das scheint mir auch so«, seufzte Abu Dun. »Allein, weil du wahrscheinlich schon den nächsten Tag nicht mehr erleben würdest, wenn ich nicht auf dich aufpasse.«

Gegen seinen Willen musste Andrej nun doch lachen. Kopfschüttelnd ging er zu seinem Pferd, schwang sich in den Sattel und wartete, bis Abu Dun ebenfalls aufgesessen hatte. Sie sprachen nicht mehr, sondern wendeten umständlich ihre Tiere auf dem schmalen Weg, und insbesondere Abu Dun achtete sorgsam darauf, dass die Pferdehufe stets auf dem befestigten Untergrund blieben. Der Blick seiner dunklen Augen wanderte missmutig über das flach daliegende Moor, über dem hier und da blasser Dunst lag, Nebel, der zu dieser Tageszeit weder eine Existenzberechtigung hatte, noch wie Nebel aussah. Eher ließ er die Sonnenstrahlen wie auf Staub flirren.

»Ein solches Land kann auch nur euch Ungläubigen einfallen«, sagte er. »Es sieht aus wie das Paradies. Hier ist mehr Wasser, als tausend Familien meines Volkes in einem Jahrhundert verbrauchen könnten, und doch ist die Gegend so tödlich wie Treibsand.« Er schüttelte heftig den Kopf, um seiner Empörung Ausdruck zu verleihen.

»Wir haben dieses Land nicht gemacht, weißt du?«, bemerkte Andrej.

»Nein, aber es wurde euch geschenkt. Und was macht ihr daraus?«

Andrej war nicht sicher, ob Abu Dun einfach nur daherplapperte, oder ob er auf etwas Bestimmtes hinaus wollte, aber ihm war nicht danach, sich in eine Debatte über Gott und die Welt verstricken zu lassen. So antwortete er, halb im Scherz: »Hätten wir dieses Land nicht unter Wasser gesetzt, dann hättest du auch nicht die Spuren deiner mörderischen Kinder finden können, die uns ja angeblich verfolgen.«

»Es waren zwei oder drei«, antwortete Abu Dun in sehr ernstem Ton, »wenn nicht sogar vier. Und ich habe nicht gesagt, dass sie uns verfolgen.«

»Sondern?«

»Dass sie noch in der Nähe sind«, erwiderte Abu Dun. »Ich kenne dieses Gelände nicht. Ich weiß nicht, wie lange Spuren hier brauchen, um zu verschwinden. Sie können wenige Stunden, oder auch einen Tag alt sein.« Es verging ein Moment, bis Andrej wirklich klar wurde, was Abu Dun damit ausdrücken wollte. Er verhielt mit einem Ruck sein Pferd und sah den schwarzen Hünen durchdringend an. »Du willst damit sagen -«

»- dass sie hinter uns sein können, oder vor uns ...« Abu Dun hob die Schultern. »Oder auch ... unter uns.« Impulsiv wollte Andrej widersprechen, verkniff sich aber im letzten Moment die scharfe Antwort, die ihm auf der Zunge lag. Wenn es jemanden gab, auf den er zornig sein sollte, dann auf sich selbst. Hatte er wirklich geglaubt, der Nubier würde so schnell aufgeben?

»Was genau meinst du damit?«, fragte er. »Das, was ich gesagt habe«, erwiderte Abu Dun. »Ich werde die Augen offen halten.« Sprach's, gab seinem Pferd die Sporen und preschte so schnell davon, dass Andrej keine Gelegenheit mehr erhielt, weitere Fragen zu stellen. Es war ihm zwar gelungen, den Nubier einzuholen, lange, bevor sie das Lager der Zigeuner erreichten, doch Abu Dun war nun endgültig nicht mehr in der Stimmung gewesen, zu reden. Andrej ging es ebenso, und so hatten sie zwar den Rest der Strecke nebeneinander und in nicht mehr ganz so scharfem Tempo zurückgelegt, sich dann aber getrennt.

Abu Dun war seiner Wege gegangen, ohne dass er es für nötig befunden hätte, Andrej darüber aufzuklären, wohin diese Wege führten, und er selbst hatte sich zu dem sechsrädrigen Karren begeben, in dem Anka lebte. Doch noch bevor er an die Tür der Alten klopfen konnte, hatte ihn Rason abgefangen, der ihm augenzwinkernd, wenngleich mit einem gewissen Nachdruck erklärte, dass es allmählich an der Zeit sei, dass Andrej für seinen und den Lebensunterhalt seines Freundes arbeite.

Und wie sich zeigte, schien es ihm damit Ernst zu sein. So verstrich der Tag, noch bevor Andrej bemerkte, dass er überhaupt begonnen hatte. Rason - der sich offensichtlich als eine Art Lehrmeister verstand - wies ihm die unterschiedlichsten Arbeiten zu, die Andrej auch allesamt klaglos verrichtete. Gleichzeitig lernte er dabei das Leben in einem Sinti-Lager gründlicher kennen, als er es sich je erträumt hätte. All dies hatte wenig mit Romantik zu tun, dafür mit sehr viel und sehr harter Arbeit, von der niemand ausgenommen war - weder Kinder, noch Alte - und Gäste schon gar nicht. Und so fand sich Andrej bald Eimer schleppend, Holz hackend, Pferde fütternd und Körbe voller Lebensmittel hin und her tragend wieder. Den größten Teil des Nachmittags half er dann dabei, die rechteckige Bühne aufzubauen, die das Zentrum des in einem Halbkreis errichteten Wagenlagers bildete. Zwar bekam er auf seine Fragen nach ihrem Zweck keine Antwort, erinnerte sich dann aber an ihr Gespräch vom frühen Morgen; und auch an das, was Rason über Abu Dun gesagt hatte. Auch lernte Andrej im Laufe des Tages fast sämtliche Mitglieder der Sippe kennen, die, wie sich herausstellte, eine einzige, große Familie zu sein schien. Vielleicht war Ankas scherzhafte Bemerkung, dass hier irgendwie jeder mit jedem verwandt sei, gar nicht so scherzhaft gemeint?