Obwohl der Junge Elena nicht einmal ansah, fuhr er unter dem beißenden Spott in ihren Worten zusammen wie unter einem Hieb, und sein Blick wurde noch unsteter. »Ich ...« Er rang nach Worten. Schließlich nahm er all seinen Mut zusammen, hob den Kopf und sah Elena direkt ins Gesicht; wenn auch nur für eine Sekunde. »Wir können nicht liefern.«
Womit immer er und auch Andrej gerechnet hatten, es kam nicht. Elena sah ihn nur fragend und mit einem angedeuteten Lächeln an, und an ihrer Stelle ergriff Laurus das Wort: »Wo ist das Problem? Wir hatten einen Handel, soweit ich weiß.«
»Das stimmt«, beeilte sich der junge Bursche zu versichern. »Es ist auch nicht so, dass wir unseren Teil der Vereinbarung nicht einhalten wollen. Aber es geht nicht.«
»Ihr wollt den Preis in die Höhe treiben«, vermutete Elena.
»Nein«, versicherte der Bäckergeselle schnell. »Aber wir haben selbst keine Ware bekommen. Handmann, der Müller, weigert sich, uns Mehl zu verkaufen.«
»Weil er den Preis in die Höhe treiben will?«, fragte Laurus, aber auch diesmal bestand die Antwort nur aus einem Kopfschütteln und einem noch unbehaglicheren Fußscharren.
»Er will... Er hat... Er sagte ...«
»So beruhige dich doch, Junge«, mischte sich nun Andrej ein. Elena warf ihm einen zornigen Blick zu, und auch Laurus runzelte verärgert die Stirn, aber keiner der beiden sagte etwas. Und so trat Andrej mit einem entschlossenen Schritt auf den bemitleidenswerten Burschen zu, schon, um den Blickkontakt zwischen den beiden Parteien zu unterbrechen - hob besänftigend die Hände und fuhr mit leiser Stimme fort: »Du brauchst keine Angst zu haben. Niemand hier macht dir einen Vorwurf. Und nun erzähle uns in aller Ruhe, was passiert ist.«
Sein Gegenüber atmete erleichtert auf, und zum ersten Mal entspannten sich die Züge in seinem Gesicht ein wenig, wenngleich die Furcht in seinem Blick noch immer groß war. Nervös fuhr er sich mit der Zungenspitze über die Lippen. »Ich war heute Mittag selbst bei ihm, um das bestellte Mehl abzuholen. Er hat mir nichts gegeben.«
»Warum?«, fragte Andrej.
»Euretwegen.«
»Unseretwegen?«?
Wieder vergingen endlose Sekunden, bevor der Junge antwortete. Er wandte seinen Blick nicht von Andrej ab, als er auf Elena deutete. »Ihretwegen.«
»Erkläre das!«
»Handmann hat gehört, was heute Morgen in der Stadt passiert ist. Er sagt, er ... er verkauft seine Waren nicht an Hexen und Zauberer. Das waren seine Worte, nicht meine! Ich bin ... Es ist... Wir können ...«
»Jetzt beruhige dich doch«, sagte Andrej. »Ich glaube dir. Niemand hier nimmt dir etwas übel.« Er warf Elena einen mahnenden Blick zu. »Im Gegenteil, es war richtig, dass du hergekommen bist. Wir werden uns selbst um die Angelegenheit kümmern.«
Zu seiner Verwunderung streifte ihn Elenas feindseliger Blick nur kurz, dann nickte sie knapp und sagte: »Erklär' uns den Weg zu diesem Müller. Ich werde selbst mit ihm reden.«
Der Junge tat, wie ihm geheißen, und kaum hatte er zu Ende gesprochen, da machte er auf dem Absatz kehrt und kletterte so hastig in den Sattel seines Pferdes, dass er fast auf der anderen Seite wieder heruntergefallen wäre. Andrej sah ihm stirnrunzelnd nach, bis er eiligst davon geritten war, dann wandte er sich zu Elena um. »Glaubst du wirklich, dass es eine gute Idee ist, zu diesem Mann zu gehen?« Sie maß ihn mit einem fast verächtlichen Blick. »Ich habe keine Angst vor einem Müller«, sagte sie - auf eine Art, als wäre allein die Tatsache, dass sie über einen Müller sprach, schon ein Garant dafür, dass der Mann ihr nicht gefährlich werden konnte.
Andrej schüttelte besorgt den Kopf. »Anscheinend hast du nicht richtig zugehört«, sagte er. Weder jetzt noch heute Morgen, fügte er in Gedanken hinzu, doch er war sich ziemlich sicher, dass Elena es trotzdem hörte. »Sie haben von einer Hexe gesprochen.«
»Bin ich das denn?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete Andrej achselzuckend. »Aber es spielt keine Rolle, was ich weiß oder nicht. Die Menschen sind abergläubisch, und sie fürchten alle Fremden. Aus Furcht wird leicht Hass.«
»Du überschätzt dieses einfältige Pack«, gab Elena verächtlich zurück. »Und du unterschätzt mich. Ich bin schon mit anderen Gefahren fertig geworden.«
Daran zweifelte Andrej keine Sekunde. Dennoch schüttelte er nur noch nachdrücklicher den Kopf. »Du solltest trotzdem nicht -«
»Und außerdem werde ich nicht allein dorthin gehen«, fiel sie ihm ins Wort. Ihre Augen glitzerten spöttisch. »Wozu haben wir einen so tapferen Krieger wie dich in unserer Mitte?«
Andrej hatte irrigerweise angenommen, dass sie, wie schon am Morgen, mit dem Wagen aufbrechen würden; zumal Elena der sicheren Überzeugung zu sein schien, auf dem Rückweg mehrere Zentner Hafer- und Weizenmehl mitzubringen. Die zweite - und deutlich größere - Überraschung war, dass Elena und er das Lager allein verließen, und zwar hoch zu Ross. Die Blicke, die Laurus ihm zugeworfen hatte, hatten ihm klar gemacht, dass der Sinti sehr wohl wusste, mit welchen Augen Andrej seine Frau ansah; und dass es ihm missfiel. Andrej hatte damit gerechnet, dass sich zumindest einer seiner beiden Söhne ihnen anschließen würde, aber Bason hatte ihm nur eine spöttische Bemerkung mit auf den Weg gegeben, und sein Bruder war gar nicht erst zu sehen gewesen.
Elena erwies sich als ausgezeichnete Reiterin, deren Geschick dem seinen in nichts nachstand, und auch das struppige Pony, auf dem sie ritt, erwies sich Andrejs Rassehengst als durchaus ebenbürtig. Auf dem ersten Stück des Weges hatte er beinahe Mühe, überhaupt an ihrer Seite zu bleiben, und auch danach legte Elena ein so scharfes Tempo vor, dass eine Unterhaltung praktisch unmöglich wurde - was Andrej allerdings Recht war. Er war noch immer mit sich und seinen Gefühlen im Unreinen und ertappte sich mehr als einmal bei dem Gedanken, ob Abu Dun vielleicht mit vielem von dem, was er gesagt hatte, im Recht war, wenn nicht gar mit allem.
Die Sonne war längst untergegangen, als sie das Haus des Müllers erreichten - das sich als nichts anderes als eine herunter gekommene, wenngleich riesige Windmühle erwies. In der Dunkelheit ragte das Gebäude fast wie ein Berg vor ihnen auf, und obwohl die großen Flügel still standen und nur die Stoffbespannung manchmal in der leichten Brise flatterte und klatschte, wie das schlaff herunterhängende Segel eines Schiffes, vernahm Andrej doch das Ächzen und Knarren des uralten Holzes, das wie das Räuspern eines schlafenden Riesen, der Kraft für den nächsten Morgen sammelte, klang. Und er hörte noch mehr: Ein Rascheln und Flüstern, das Wispern des Windes in den Baumwipfeln, die Geräusche winziger Tiere, die Unterschlupf für die Nacht suchten oder gerade erst erwacht waren und sich auf die Jagd begaben ...
Aber da war noch etwas anderes, und es war verwirrend: Er spürte, dass etwas da war, etwas, das nicht hierher gehörte, und ihn über die Maßen beunruhigte, aber er konnte nicht sagen was. Und er hatte sich allem Anschein nach nicht annähernd so gut in der Gewalt, wie er glaubte, denn als sie sich der dunkel daliegenden Mühle näherten und dabei unweigerlich langsamer wurden, drehte sich Elena plötzlich im Sattel herum und brach zum ersten Mal, seit sie das Sinti-Lager verlassen hatten, ihr Schweigen.
»Was hast du, Andreas?«
Andrej wusste im ersten Moment nicht, was ihn mehr überraschte - dass Elena mit ihm sprach, oder dass sie offensichtlich seine innere Unruhe spürte. Wie um Zeit zu gewinnen, hob er die Schultern und ließ den Blick seiner misstrauisch zusammengepressten Augen noch einmal aufmerksam über den dunkel daliegenden Waldrand rechts und links schweifen. Er spürte das Leben, das sich in den Schatten der Nacht verbarg, aber ihm war zugleich auch, als wehe ein unheimlicher, körperlos eisiger Hauch aus diesen Mauern aus Dunkelheit und ineinander verflochtenem Grün und Braun. »Nichts«, sagte er schließlich. »Ich dachte, ich hätte etwas gehört. Aber vielleicht hab ich mich getäuscht.«