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Andrej wurde sich der Tatsache bewusst, dass er das Mädchen seit einer geraumen Weile anstarrte. Rasch räusperte er sich und knüpfte - wenn auch mit einiger Verspätung - an ihre Worte an. »Das habe ich bemerkt. Du solltest vorsichtiger sein.«

»Vorsichtiger?«

»Nicht alle Fremden, denen man begegnet, sind unbedingt vertrauenswürdig«, erklärte Andrej und zweifelte gleich da - an seinem Geisteszustand. Gerade noch hatte er selbst bedauert, wie wenig Vertrauen unter den Menschen herrschte und jetzt bediente er sich der Argumente derer, denen diese bitteren Gedanken galten.

Das Mädchen schüttelte aber auch jetzt nur den Kopf, und sein Lächeln wurde noch herzlicher. »Ihr seht nicht aus wie jemand, vor dem ich mich fürchten müsste. Und Euer großer Freund dort hinten auch nicht.«

Andrej wandte kurz den Blick und sah, dass Abu Dun mit einigem Abstand und sehr langsam herankam. Eigentlich, dachte er, sieht Abu Dun durchaus aus wie jemand, vor dem man sich fürchten sollte. Er trug zwar ebenso wenig wie Andrej eine Waffe - zumindest nicht sichtbar -, aber dank seiner riesigen, massigen Gestalt, seiner ganz in Schwarz gehaltenen Kleidung - und noch dazu mit einem riesigen Turban ausgestattet, der ihn noch gewaltiger erscheinen ließ - sah er alles andere als Vertrauen erweckend aus.

»Du hast natürlich Recht«, beeilte er sich zu sagen. »Wir sind einfach nur zwei müde Reisende, die auf der Suche nach einem Gasthof oder einem anderen Schlafplatz sind. Kannst du uns sagen, wo das nächste Dorf liegt?«

Das Mädchen machte eine vage Kopfbewegung zum anderen Flussufer. »Dort. Ist nicht sehr weit. Eine halbe Stunde zu Fuß. Viel weniger zu Pferde.«

Andrej blinzelte. »Woher weißt du, dass wir Pferde dabeihaben?«

»Ihr tragt Reithosen«, antwortete das Mädchen. »Und ich kann Eure Tiere riechen. Ihr Geruch haftet Euch noch an.«

Nun war Andrej wirklich überrascht. Er hatte sich in den zurückliegenden Jahren so sehr daran gewöhnt, über die scharfen Sinne eines Raubtiers zu verfügen, dass es ihm Selbstverständlich erschien, riechen zu können, ob und wann jemand im Sattel gesessen hatte, was seine letzte Mahlzeit gewesen war, oder ob er in der vergangenen Nacht keusch gewesen war. Einem normalen Menschen war das allerdings nicht möglich.

»Das stimmt«, gab er überrascht zu. »Unsere Pferde sind oben im Wald. Du hast ... sehr scharfe Sinne.«

»Das sagt meine Mutter auch immer«, antwortete das Mädchen lachend, gleichzeitig schüttelte es so heftig den Kopf, dass seine nassen Haare gegen seine Schultern klatschten.

Und für einen unendlich kurzen Moment veränderte es sich. Für jene, weniger als einen Atemzug währende Spanne, in der Andrej sein Gesicht eingerahmt von wehendem nassem Haar und unzähligen, stiebenden Wassertröpfchen sah, die im Gegenlicht der untergehenden Sonne wie Rubinstaub leuchteten, war es nicht mehr das Gesicht eines Kindes. Auch nicht das einer Frau oder überhaupt eines Menschen. Die Züge des Mädchens hatten sich nicht wirklich verändert, und doch wirkten sie plötzlich ... schärfer, härter, bösartiger ... Wen hatte er da vor sich? Ein Ding, das vorgab, ein Mensch zu sein?

Andrej blinzelte, und die Illusion verschwand so rasch wie sie gekommen war. Vor ihm stand ein elf- oder zwölfjähriges Mädchen, das sein Erschrecken bemerkt zu haben schien, denn es sah ihn mit verwirrtem Blick an, fuhr aber trotzdem fort: »Aber es stimmt nicht. Ich liebe Pferde und verbringe fast mehr Zeit im Stall als sonst wo. Deshalb kenne ich ihren Geruch so gut.«

»Das ist ... sehr interessant«, murmelte Andrej. Es fiel ihm schwer, überhaupt zu sprechen, und er war auch nicht sicher, ob er die Worte des Mädchens richtig verstanden hatte. Sein Herz raste. Alles in ihm befand sich in Aufruhr. Er spürte, wie seine Finger zu zittern begannen, ohne dass er etwas dagegen tun konnte. Aus aufgerissenen Augen starrte er das Mädchen an. Er suchte nach etwas in ihrem Blick.

Nichts. Er hatte sich getäuscht. Seine Nerven hatten ihm einen bösen Streich gespielt, wie so oft in letzter Zeit. Dieses Kind war ein Kind, nichts anderes.

Dennoch schloss er für einen Moment die Augen und lauschte in sich hinein. Er tastete mit seinen geheimen Sinnen nach der Seele seines Gegenübers, jenen unsichtbaren und unheimlichen Kräften, die er selbst kaum besser verstand als Abu Dun oder die wenigen anderen Menschen, denen er sein Geheimnis jemals offenbart hatte; jenes Geheimnis, das für ihn Segen und Fluch zugleich war. Aber er fühlte nichts.

»Herr?«

Andrej öffnete die Augen, blinzelte ein paar Mal und zwang schließlich ein verunglücktes Lächeln auf seine Züge. »Es ist nichts«, beteuerte er. »Entschuldige, wenn ich dich erschreckt habe. Ich war in Gedanken. Du brauchst dich nicht zu fürchten.«

»Aber das tue ich nicht«, versicherte das Mädchen. Es schüttelte wieder den Kopf, diesmal aber, ohne dass sich seine Züge veränderten. »Mein Vater hat mir gezeigt, wie man sich verteidigt, wenn es sein muss.«

»Dann scheint mir dein Vater kein sehr kluger Mann zu sein«, sagte Abu Dun, der mittlerweile ganz herangekommen war und den letzten Teil des Gesprächs mitangehört hatte. Andrejs sonderbares Benehmen schien ihm ebenfalls nicht entgangen zu sein, denn er sah ihn mit einer Mischung aus Neugier und leiser Besorgnis an, fuhr aber dann, sich an das Mädchen wendend, fort: »Er hätte dir lieber beibringen sollen, wie man rechtzeitig wegläuft.«

»Weglaufen? Aber wozu? Wenn ich der Meinung gewesen wäre, dass Ihr mir Übles wollt, dann hätte ich Euch längst getötet.« Die Hand des Mädchens verschwand hinter seinem Rücken und kam mit einem kurzen, zweischneidig geschliffenen Dolch wieder zum Vorschein. »Ich habe eine Waffe. Hier, seht Ihr?«

Abu Duns Gesicht verdüsterte sich. »Ich muss mich korrigieren«, sagte er. »Dein Vater ist ein Dummkopf.«

»Das sagt meine Mutter auch manchmal«, kicherte das Mädchen. »Aber nur, wenn er es nicht hört.«

»Interessant«, murmelte Andrej. »Aber jetzt müssen wir weiter. Ich danke dir, dass du uns den Weg gewiesen hast.« Ruckartig drehte er sich um und machte dabei eine fast herrische Handbewegung in Abu Duns Richtung. »Komm!«

Der Nubier sah ihn verblüfft an, zuckte dann aber nur die Achseln und folgte ihm. Als sie einige Schritte gegangen waren fragte er: »Was ist los?«

»Nichts«, antwortete Andrej ausweichend. »Es ist nur ...«

»Ihr Haar?«

»Dieses Mädchen«, gestand Andrej, »ist mir unheimlich. Irgendetwas stimmt nicht mit ihr.«

Abu Dun sog hörbar die Luft zwischen den Zähnen ein. »Ist sie ...?«

»Nein, das nicht«, unterbrach ihn Andrej so scharf und erschrocken, als fürchte er, dass etwas Schreckliches geschehen müsste, wenn Abu Dun den Gedanken ausspräche, den er nicht einmal zu denken wagte. »Sie ist nur ein Mädchen. Und ich mag sie nicht, das ist alles.«

Darauf antwortete Abu Dun nicht. Aber sein Schweigen war beredt genug. Andrej beschleunigte seine Schritte. Er hatte Abu Dun nicht ganz die Wahrheit gesagt. Das Mädchen war ihm nicht unheimlich.

Das Mädchen machte ihm Angst.

Sie hatten gerade einmal den halben Weg den Hang hinauf zurückgelegt, als sie erneut seine Stimme vernahmen: »Ihr Herren?«

Am liebsten wäre Andrej einfach weitergegangen. In Anwesenheit des Nubiers jedoch wäre ihm dieses Eingeständnis seiner eigenen Schwäche unangenehm gewesen, und so blieb er widerwillig stehen und drehte sich zu dem Mädchen um. »Was ist denn noch?«

Das Mädchen war aus dem Fluss herausgetreten und stand am Ufer. Seltsam: Im roten Gegenlicht der Sonne sah es so aus, als wären seine Kleider bereits wieder getrocknet, und auch sein Haar klebte nicht mehr nass am Kopf.

»Ich habe es mir überlegt«, sagte es. »Ich glaube, ich werde Euch doch töten.«

Andrej presste die Lippen aufeinander, und Abu Dun zog die Stirn in Falten. »Du solltest vorsichtig mit solchen Scherzen sein«, grollte er. »Nicht jeder ist so geduldig wie wir. So etwas könnte dir eine gehörige Tracht Prügel einbringen.«