»Nun, ich ... ich bemühe mich stets, Menschen nach dem zu beurteilen, was sie sind und tun, nicht nach dem, was sie zu sein scheinen und was man über sie sagt«, antwortete der Geistliche, ohne ihn anzusehen, und es klang wie eine Verteidigung. »Ich weiß, dass manche meiner Schäfchen vielleicht ein wenig zu rasch mit einem Urteil bei der Hand sind. Aber das letzte Mal war es tatsächlich so, dass Dinge gestohlen wurden, Vieh verschwand ... wie übrigens auch die Frau eines Bauern.« Plötzlich grinste er. »Aber er war kein guter Mann. Er hat sie oft geschlagen.«
Andrej blieb Ernst. »War es die gleiche Familie?«
»Nein, und es ist lange her.« Nun sah Flock Andrej wieder an. »Ihr seid noch nicht lange bei diesen Leuten?«
»Das stimmt«, sagte Andrej. »Ich gehöre nicht zu ihnen, wenn es das ist, was Ihr wissen wollt. Mein Freund und ich haben uns nur für eine Weile zu ihnen gesellt.«
»Aber Ihr setzt Euch für sie ein?«
Andrej hob die Schultern. »In dieser Hinsicht geht es mir wie Euch«, sagte er. »Ich beurteile Menschen nach dem, was sie tun und sind, nicht nach dem, was sie zu sein scheinen.«
»Dann wird Euer Urteil über Bruder Handmann nicht sonderlich gut ausfallen, fürchte ich.« Flock zwang sich zu einem Lächeln und straffte die Schultern. »Im Moment würde jedes weitere Wort die Situation nur noch verschärfen. Aber ich verspreche Euch, dass ich gleich morgen noch einmal mit ihm rede. Und wenn das nichts nützt, so gibt es noch eine andere Mühle, einen halben Tagesritt von hier. Ich werde jemanden dorthin schicken, der Euch alles besorgt, was Ihr braucht. Doch jetzt solltet Ihr Euch um Eure Begleiterin kümmern. Es ist nicht gut, wenn eine Frau nachts allein unterwegs ist.«
»Elena kann bestens auf sich selbst aufpassen«, sagte Andrej, aber Flock schüttelte den Kopf.
»Die Wälder hier sind sehr dicht und nicht ungefährlich. So mancher hat sich schon verirrt, und das Moor ist nicht weit. Ein Fremder, der dort hineingerät, ist verloren.«
Flock wollte ihn loswerden, das war klar. Vermutlich, dachte Andrej, um noch einmal allein mit dem störrischen Müller zu reden. Und ihm war es im Grunde Recht. Er fühlte sich in der Nähe des jungen Geistlichen unwohl, vielleicht, weil dieser so ganz anders war, als er erwartet hatte. Und natürlich waren Flocks Bedenken nicht völlig aus der Luft gegriffen. Aber so, wie Andrej Elena einschätzte, konnte sie tatsächlich gut auf sich selbst aufpassen. Ganz im Gegenteil sollte sich eher derjenige, der dachte, er habe des Nachts leichtes Spiel mit dieser wehrlosen Frau, Sorgen um seine eigene Gesundheit machen. Dennoch war es besser, seinem Rat zu folgen.
»Habt Dank für Eure Mühe«, sagte er.
»Viel hat es ja nicht genutzt, fürchte ich«, erwiderte Flock. »Aber ich werde sehen, was ich für Euch tun kann. So oder so - ich werde morgen oder spätestens übermorgen ins Lager kommen, um mit Euren Leuten zu reden. Und nun geht und sucht Eure Freundin, bevor am Ende noch wirklich ein Unglück geschieht.« Er hatte fest geglaubt, Elena binnen weniger Augenblicke einzuholen, oder ihre Gestalt zumindest zu sichten, doch er hatte sich geirrt.
Innerlich aufgewühlt und verwirrt wie schon lange nicht mehr, war Andrej eine Weile ziellos in die Richtung gelaufen, in die auch Elena verschwunden war, bevor er einsah, dass er vermutlich auf dem besten Weg war, genau das zu tun, wovor Flock ihn gewarnt hatte: nämlich, sich zu verirren. Einmal zu dieser Erkenntnis gelangt - insbesondere angesichts der Peinlichkeit, sollte Abu Dun von einem solchen Missgeschick erfahren -, war es nur noch ein kurzer Schritt dahin, stehen zu bleiben und nachzudenken.
Nicht, dass es besonders viel zu sehen gegeben hätte. Er hatte sich vielleicht hundert oder hundertzwanzig Schritte von der Mühle entfernt, und auch, wenn die Nacht viel zu dunkel war, um das Gebäude noch als Schatten erkennen zu können, konnte er dessen Nähe nach wie vor spüren, wie er noch immer das leise Knarren der uralten Holzkonstruktion und das Geräusch der Segeltuchbespannung hörte; dazu das Wispern und Raunen des Waldes, das Geräusch der Blätter, Flügelschlagen und die hastigen Schritte winziger, krallenbewehrter Füßchen. Der Wald, der ihn umgab, war wie ein großes, atmendes Wesen voller Leben und unsichtbarer Augen, die ihn aufmerksam aus der Dunkelheit heraus anstarrten.
Was er indes nicht spürte, war Elena.
Und das war seltsam. Er war stets in der Lage gewesen, die Nähe eines Wesens seiner Art auch auf große Entfernung hin zu spüren. Über diese Fähigkeit verfügte er auch, wenn es um ganz normale Menschen ging, allerdings funktionierte diese Wahrnehmung dann nicht auf ganz so große Distanz, und auch nur, wenn er sich konzentrierte. Es war nicht die Art des Lebens, die er fühlte, sondern das Leben selbst.
Doch jetzt und hier war er allein.
Er ging weiter, und allmählich begann nun doch eine leise, aber nagende Sorge von ihm Besitz zu ergreifen. Noch weigerte er sich zu glauben, dass Elena tatsächlich irgendetwas zugestoßen sein könnte, aber allein die Vorstellung, sie tatsächlich verloren zu haben und allein ins Lager der Sinti zurückzukehren, war ihm überaus zuwider. Stattdessen blieb er erneut stehen, schloss die Augen und lauschte erneut angestrengt in die Nacht hinaus.
Und nach einer Weile hörte er tatsächlich etwas, das sich von den normalen Geräuschen des Waldes unterschied. Es waren Schritte, sehr weit entfernt und so leise, dass es ihm im ersten Augenblick nicht möglich war, die Richtung zu lokalisieren, aus der sie kamen, und er im zweiten erschrak, als ihm klar wurde, wie weit sich Elena bereits von ihm entfernt hatte. Sicher, sie war schnell und zornig davongegangen, aber er hatte auch nur noch wenige Augenblicke mit Flock gesprochen, bevor er ihr gefolgt war. Doch auch, wenn er die bisweilen irreführende Akustik des Waldes in Rechnung Stellte, musste sie mindestens eine Viertelmeile von ihm entfernt sein, und um das zu schaffen, hätte sie schon rennen müssen ...
Der Gedanke lieferte seiner Beunruhigung neue Nahrung, und diesmal gab er dem Gefühl nach. Schon eilte er so schnell durch den nächtlichen Wald, wie er es gerade noch vermochte, ohne sich trotz seiner scharfen Augen in der Dunkelheit zu verletzen und mit dem Lärm, den er beim Rennen verursachen würde, das Geräusch von Elenas Schritten zu übertönen und sie womöglich endgültig zu verlieren.
Tatsächlich musste er sich ab und an beherrschen, nicht einfach wieder loszustürmen. Stattdessen zwang er sich nach einer Weile sogar dazu, noch langsamer zu gehen und aufmerksamer zu lauschen, und da fiel ihm etwas auf. Das Geräusch der Schritte war noch immer nicht wirklich näher gekommen, aber er war sich keineswegs mehr sicher, ob er tatsächlich nur eine einzelne Person verfolgte ... Und wer immer es war, er oder sie schienen tatsächlich zu rennen. Andrej war jetzt nicht mehr nur beunruhigt, er war alarmiert. Kurz hielt er noch einmal inne, um sich zu orientieren, dann warf er alle Bedenken über Bord und lief los.
Als er das nächste Mal stehen blieb, war das Geräusch der Schritte vor ihm plötzlich verschwunden. Er lauschte und hielt den Atem an. Stimmen. Irgendwo vor ihm, nicht mehr sehr weit entfernt, waren Stimmen. Er konnte nicht verstehen, was gesprochen wurde, aber der Tonfall war scharf. Ein gehetztes Flüstern, das die Anspannung der Sprechenden verriet. Nicht unbedingt ein Streit, aber etwas, in dem ein Unterton von Drohung und bebendem Zorn mitschwang.
Vielleicht, dachte er beunruhigt, ist der Müller ja nicht der einzige hier, der Elenas Zauber widerstanden hat, und vielleicht war Flocks Warnung ernster gemeint, als ich wahrhaben wollte ... Andrej setzte sich wieder in Bewegung, langsamer diesmal und so leise, wie es ihm möglich war, und legte vorsichtshalber die Hand auf den Schwertgriff. Er konnte jetzt ganz klar die Anwesenheit mehrerer Menschen spüren. Und nach einer kurzen Weile wurden nicht nur die Stimmen deutlicher - er konnte sie immer noch nicht verstehen, was daran lag, dass man in einer Sprache miteinander redete, die ihm nicht geläufig war -, sondern er sah auch blasses Mondlicht vor sich durchs Unterholz schimmern. Etwas reflektierte den Glanz hell und seidig, und in einem Rhythmus, der nicht ins natürliche Licht-und-Schattenspiel des Nachtwaldes passte: Elenas Kleid.