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Etwas in Elenas Blick erlosch. Aus der verlockenden Aufforderung in ihren Augen wurde Überraschung, dann Zorn und schließlich Verachtung. Ihr Lächeln gefror. »Ganz, wie du willst, Andreas«, sagte sie. Dann drehte sie sich mit einem Ruck herum, ließ sich wieder auf die Knie sinken und überkreuzte zugleich die Arme vor der Brust, als wäre es ihr plötzlich peinlich, von ihm angestarrt zu werden. »Dann tu das, weshalb du mitgekommen bist, und gib Acht, dass mir kein Leid geschieht.«

Ihre Worte brachen den Bann endgültig. Von einem Moment zum anderen sah Andrej sie wieder so, wie sie war: Eine Frau, die deutlich älter war als er selbst, immer noch eine Schönheit, der die Jahre kaum etwas hatten anhaben können, aber dennoch eine ganz normale Frau und nicht mehr die Gestalt gewordene Weiblichkeit, deren Verlockung kein Mann widerstehen konnte.

Er betrachtete sie noch eine Weile schweigend, dann drehte er sich herum und tat so, als suche er den Waldrand ab.

Und für einen Moment glaubte er tatsächlich, etwas zu hören. Waren da nicht Schritte? Schnelle, hastige, kleine und leichte Schritte, die sich schnell entfernten und im nächsten Augenblick verschwunden waren ...

Er erwachte am nächsten Morgen ungewöhnlich spät, geweckt von misstönender, lauter Musik, hämmernden Kopfschmerzen und dem Gefühl, nicht richtig atmen zu können.

Im ersten Moment war er einfach nur verwirrt. Statt auf Schlag zu erwachen und sich und seiner Umgebung völlig bewusst zu sein, wie er es gewohnt war, erinnerte er sich nur an ein Gemisch aus wirren Albträumen und zusammenhanglosen, düsteren Bildern, von denen er lediglich wusste, dass sie allesamt unangenehm gewesen waren.

Es war warm, fast schon heiß, und das Licht, das durch seine noch geschlossenen Lider drang, hatte eine unangenehme, bräunliche Färbung, die irgendetwas mit den Träumen zu tun zu haben schien, die er eben noch durchlitten hatte. Außerdem hatte er entsetzlichen Durst. Schließlich öffnete er die Augen, blinzelte verschlafen umher und stellte fest, dass das Lager aus Decken und einem als Kopfkissen dienenden Strohsack neben ihm, auf dem Abu Dun schlief, verlassen war. Das unangenehme rotbraune Licht, das ihn einhüllte, war das der Sonne, das mit erbarmungsloser Kraft durch den dicken Stoff der Zeltplane drang. Ihrem Stand nach zu schließen - er konnte die Sonne als verwaschenen, hellgelben Fleck durch die Zeltplane hindurch erkennen -, mussten mindestens zwei Stunden vergangen sein, seit sie aufgegangen war, und wenn es hier drinnen Schon so warm war, dass er kaum atmen konnte, dann musste es draußen schier unerträglich heiß sein.

Vor allem hatte er viel zu lange geschlafen, und das war etwas, was normalerweise nie vorkam.

Andrej setzte sich auf und fuhr mit dem Handrücken über das schweißnasse Gesicht. Er hatte nicht nur Kopfschmerzen, ihm war auch leicht schwindelig, und er hatte einen widerwärtigen Geschmack im Mund. Vergeblich versuchte er sich zu erinnern, wie er ins Zelt gekommen war, und ob und worüber er vor dem Zubettgehen noch mit Abu Dun gesprochen hatte.

Elena und er hatten den Rückweg in grimmigem Schweigen zurückgelegt, und sie war auf der letzten halben Meile vorausgeritten, ohne dass er versucht hätte, sie daran zu hindern. Im Lager war es bereits dunkel gewesen, und er hatte weder sie noch ihre Brüder oder Laurus gesehen, so dass er sofort in sein Zelt gegangen sein musste, um sich schlafen zu legen. Und dann ...

Nein, er konnte sich nicht mehr daran erinnern. Die Erkenntnis beunruhigte ihn. Er hatte das Gefühl, dass noch irgendetwas passiert war, aber er konnte nicht sagen, was, und zusammen mit der Tatsache, dass er offensichtlich bis weit in den Vormittag hinein geschlafen hatte, war das keine völlig neue, unangenehme Erfahrung für ihn. Irgendetwas stimmt nicht mit mir, dachte er. Ist es möglich, dass ich krank bin?

Normalerweise hätte Andrej diesen Gedanken weit von sich geschoben. Krankheit war ihm genauso wenig vergönnt wie der Tod, und er konnte nur mutmaßen, dass das, was er fühlte, wenn er sich nach einer Verletzung wieder regenerierte, dem ähnelte, was Sterbliche durchmachten, wenn sie auf dem Krankenbett danieder lagen. Aber wenn er nicht krank war, was war dann mit ihm los ? Abermals betastete er seine Stirn. Sie war heiß, was allerdings angesichts der stickigen Luft im Zelt kein Wunder war, und der schlechte Geschmack in seinem Mund war bestimmt einfach die Folge eines leeren Magens, denn er hatte seit gestern Mittag nichts mehr gegessen. Und selbst, dass er so lange geschlafen hatte, war vielleicht nur natürlich. Die letzten Monate waren überaus anstrengend gewesen, die unerträgliche Hitze der zurückliegenden Wochen forderte auch von ihm ihren Tribut, und gewiss brauchte auch ein Unsterblicher dann und wann eine Zeit der Erholung ...

Er stand ganz auf und griff nach dem Hemd, das er am vergangenen Abend achtlos zu Boden geworfen hatte. Das erinnerte ihn an ein anderes Kleidungsstück, welches gestern ebenso achtlos fallen gelassen worden war, sodass er für einen winzigen Moment stockte, ehe er sich hastig ankleidete und aus dem Zelt trat.

Es war nicht so heiß, wie er erwartet hatte. Es war heißer. Die Luft über dem Zigeunerlager flimmerte, und jede Zeltbahn, jedes Kleidungsstück, jedes Fitzelchen Metall schien das Sonnenlicht zu reflektieren wie ein Spiegel, sodass er im ersten Moment fast blind war, bis sich seine Augen an die erbarmungslose Helligkeit gewöhnt hätten. Draußen war es fast so stickig wie im Zelt, und die misstönende Musik, die ihn geweckt hatte, war hier natürlich noch lauter.

Er war nicht einmal ganz sicher, ob es wirklich Musik war. Im Verlauf des vergangenen Jahres hatten sie mehr als ein Dutzend Zigeuner-Familien besucht, und er hatte genug Erfahrung mit den aufpeitschenden, schnellen Rhythmen ihrer Musik, um sagen zu können, dass er so etwas noch nie gehört hatte; schrille, atonale Rhythmen, deren Takt und Lautstärke unentwegt wechselten, und die manchmal gegeneinander zu spielen schienen. Klänge, die misstönend hätten sein müssen, es sonderbarer Weise aber nicht waren und sogar etwas in ihm anrührten.

Verwirrt sah er sich nach der Ursache des Lärms um und entdeckte sie schließlich in der Mitte des Lagers, dort, wo Laurus' Sippe am vergangenen Tag das hölzerne Podest aufgebaut hatte. Ein Großteil des Clans - wenn nicht alle - hatten sich dort versammelt, und als er genauer hinsah, entdeckte er zwischen ihnen auch Abu Dun. Wenngleich nicht unbedingt zwischen ihnen ...

Der schwarze Hüne stand zusammen mit zwei jungen Sinti auf der Bühne, und im ersten Moment erschrak Andrej, denn er glaubte, einen Kampf auf Leben und Tod zu beobachten. Doch auf den zweiten Blick entpuppte sich das, was nach einem erbitterten Gefecht aussah, als ebenso albernes wie unwürdiges Schauspiel.

Abu Dun, der sowohl die Menschenmenge als auch seine beiden Gegner überragte wie ein Dschinn aus den alten Legenden seiner Heimat, verteidigte sich mit wuchtigen Schwerthieben gegen zwei junge Männer, die mit Schilden, Schwertern und Brustharnischen bewaffnet waren und ihn mal abwechselnd, mal gleichzeitig attackierten. Nur, dass diese Kampfausrüstung aus bunt bemaltem Holz bestand. Zudem trugen die Akteure lächerliche Helme aus Pappmaschee, die von bunten Federbüschen gekrönt wurden. Und um das Maß voll zu machen, führten sie nicht nur ihre Attacken im Takt der bizarren Musik aus, sondern Abu Dun tat mit seinen Paraden und Gegenangriffen das gleiche. Im Gegensatz zu den beiden jungen Männern war er mit seinem eigenen Krummsäbel bewaffnet, den er mit großer Kraft und Geschicklichkeit schwang, sodass es ihm ein Leichtes war, die Angriffe nicht nur abzuwehren, sondern immer wieder die Deckung der beiden zu durchbrechen und halbherzige Hiebe und Stiche auszuführen.

Die Zuschauermenge quittierte jeden dieser Angriffe mit johlendem Beifallrufen und Klatschen. Während Andrej langsam auf das Podest zuschlenderte, versuchte er sich darüber klar zu werden, ob er das groteske Theater nun lächerlich, dumm oder möglicherweise gar peinlich finden sollte.