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Andrej erhob sich und stampfte ein paar Mal mit den Füßen auf, um die Blutzirkulation wieder in Gang zu bringen.

»Rason, soso. Und was ist mit meinem Freund?«

»Der Muselmann?« Rason grinste, und Andrej war klar, dass er dieses Wort bewusst gewählt hatte. In der Dunkelheit schimmerten seine Zähne fast unnatürlich weiß. »Der ist ein bisschen zerrupft, aber es geht ihm gut, glaube ich. Er wartet auf dich.«

Irgendwo in der Dunkelheit nahe der Pferdekoppel wurden plötzlich Stimmen laut. Andrej verstand die Worte nicht, aber es klang wie ein Streit. Er sah einen Moment lang mit gerunzelter Stirn in die Richtung, aus der der Lärm kam, dann wandte er sich wieder zu Rason um.

»Mach mich los«, verlangte er. »Das ist albern. Und ziemlich unbequem.«

»Warum sollte ich das tun?«

»Du hast doch selbst gesagt, dass es meine Entscheidung ist, ob wir Freunde oder Feinde sind«, antwortete Andrej. »Nun, ich habe gerade entschieden, dass wir keine Feinde sind.«

Diesmal grinste Rason nicht. Er sah eher erschrocken aus. Einige Herzschläge lang schien er über die Worte nachzudenken, dann trat er zu Andrejs Überraschung hinter ihn und durchtrennte auch die Stricke um seine Handgelenke. Verblüfft starrte Andrej den schwarzhaarigen Burschen an, während er damit begann, seine Unterarme zu massieren.

»Wie du gesagt hast«, bemerkte Rason. »Es ist deine Entscheidung.«

»Ich werd nicht schlau aus dir«, murmelte Andrej. »Und ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass das deine Absicht ist.«

Ein Grinsen schlich sich in Rasons Gesicht. Er schob den Dolch unter die breite Schärpe, die er anstelle eines Gürtels trug, und machte eine einladende Geste. »Wollen wir hier herumstehen bis es hell wird, oder willst du stattdessen deinen Freund sehen?«

Andrej kapitulierte. Ob Rason nun einfach dumm war oder ihn auf den Arm nahm, das Ergebnis blieb dasselbe: Sie verschwendeten ihre Zeit. Wortlos setzte er sich in Bewegung und warf Rason dabei einen fragenden Blick zu.

Das Lager wurde gebildet aus zwei ineinander liegenden Kreisen, von denen der äußere aus Zelten, der Pferdekoppel und einer Anzahl hölzerner Gestelle bestand, auf denen Felle und Decken zum Trocknen aufgespannt worden waren, und der innere aus gut einem Dutzend der schweren vierrädrigen Karren, die Andrej schon gesehen hatte. Die Nacht hatte fast alle Farben ausgelöscht, doch Andrejs überscharfe Augen verrieten ihm, dass die meisten Fuhrwerke kunterbunt sein mussten.

Und plötzlich wusste er, wo er war. Verblüfft blieb er stehen. »Ihr seid Zigeuner!«

Auch Rason hielt mitten im Schritt inne und sah ihn stirnrunzelnd an.

»Entschuldige«, sagte Andrej rasch. »Ich weiß, ihr hört dieses Wort nicht gern, aber ...«

Rason unterbrach ihn mit einer Geste. »Jedermann nennt uns so, also warum nicht auch du? Ich wundere mich nur über dein Erstaunen. Wo ihr doch so lange nach uns gesucht habt.«

»Woher weißt du das?«

Der ernste Ausdruck verschwand schlagartig von Rasons Gesicht und machte wieder dem gewohnten Grinsen Platz. »Weißt du denn nicht, dass wir Zigeuner über das Zweite Gesicht verfügen?«, fragte er. »Natürlich nur die von uns, die nicht den Bösen Blick haben.«

»Oh ja«, antwortete Andrej. »Das hatte ich fast vergessen.«

Sie gingen weiter. Rason führte ihn an den Wagen vorbei, fast bis ans andere Ende des Lagers, wo es einen besonders großen, allerdings sehr schlicht gehaltenen Karren gab, der anstelle der üblichen vier über sechs Räder verfügte. Hinter einem schmalen, vergitterten Fenster in der Tür, zu der eine dreistufige Trittleiter hinaufführte, flackerte dunkelgelbes Licht. Im Schatten auf der anderen Seite des Wagens verbargen sich mindestens zwei Personen. Andrej konnte ihre Atemzüge hören und auch das Geräusch von Metall, das an Stoff oder Leder scheuert. Anscheinend waren Rasons Leute doch nicht so vertrauensselig, wie er selbst den Anschein zu erwecken versuchte.

»Dein Freund ist im Wagen.« Rason deutete zur Tür. »Ich warte hier draußen.«

»Zusammen mit deinen Kameraden, nehme ich an.« Die Worte taten Andrej bereits Leid, bevor er sie ausgesprochen hatte. Mittlerweile war er überzeugt davon, dass diese Leute ihm nichts Böses anhaben wollten. Er lächelte, um dem Gesagten wenigstens etwas von seiner Schärfe zu nehmen, dann ging er rasch die drei Stufen hinauf und betrat den Wagen.

Der warme Schein zweier fast heruntergebrannter Kerzen und ein verwirrendes Gemisch aus unterschiedlichsten Gerüchen empfingen ihn. Es duftete nach Kräutern und Öl, aber auch nach gebratenem Fleisch und frischem Obst. Ganz schwach mischte sich etwas Säuerliches, nicht sehr Angenehmes, darunter. Wer immer diesen Wagen bewohnte, legte entweder keinen besonderen Wert auf Reinlichkeit, oder er war sehr alt.

Die beiden einzigen Personen jedoch, die Andrej erblickte, waren Abu Dun und ein weiterer Sinti, der kaum älter sein konnte als Rason. Die beiden unterhielten sich, als Andrej eintrat, unterbrachen ihr Gespräch aber sofort und wandten sich zu ihm um. Andrej nickte dem jungen Mann flüchtig zu, dann konzentrierte er sich ganz auf Abu Dun.

Der Nubier bot einen Anblick, von dem Andrej nicht sagen konnte, ob er nun Mitleid erregend oder lächerlich war. Er hatte seinen schwarzen Kaftan und auch das Hemd ausgezogen und saß, nur mit seinen schwarzen Pluderhosen und Halbstiefeln bekleidet, auf der einen Seite eines niedrigen Tischchens, auf dem außer den beiden Kerzen ein bauchiger Weinkrug und zwei Becher standen. Seine gewaltigen Muskelpakete glänzten im Licht der beiden Kerzen wie frisch geöltes Leder, aber Andrej sah auch die zahllosen Kratzer, Schrammen und Schnitte, die Abu Dun davongetragen hatte. Die meisten waren bereits verschorft, was ihm sagte, dass er selbst tatsächlich ungewöhnlich lange ohne Bewusstsein gewesen sein musste. Sowohl um Abu Duns Unterarme als auch um seinen Bauch spannten sich saubere, straff angelegte Verbände. Ein weiterer Wickel nahm die Stelle des obligatorischen schwarzen Turbans ein. Den ungewöhnlichsten Anblick aber bot seine Nase. Ohnehin alles andere als klein, war sie nun unförmig und fast auf das Doppelte ihrer ursprünglichen Größe angeschwollen.

»Oh Allah, ein Wunder ist geschehen!«, rief Abu Dun.

»Und ich dachte schon, du wolltest bis zum Frühjahr durchschlafen.« Er sprach mit hörbar schwerer Zunge. Der Becher Wein, den er in der verbundenen Rechten hielt, schien nicht der erste zu sein.

»Wie geht es dir?«, fragte Andrej ernst.

Der junge Sinti, der zusammen mit Abu Dun am Tisch saß, leerte seinen Weinbecher in einem einzigen Zug und stand auf, um zu gehen.

»Bleib doch!«, bat Andrej. »Ich würde gern mit jemandem reden.«

»Das kannst du doch mit mir«, meinte Abu Dun.

»Mit jemandem, der nüchtern ist«, erklärte Andrej. »Und bei dem ich mich bedanken kann.«

»Es ... es ist besser, wenn ich draußen warte«, antwortete der Zigeuner. Er hatte ein ebenso offenes Gesicht wie Rason, aber anders als bei diesem, spürte Andrej eine gewisse Zurückhaltung - und auch einen Hauch von Furcht. So ließ er die Hand, die er bereits ausgestreckt hatte, um ihn zurückzuhalten, wieder sinken und trat einen Schritt zur Seite, um dem Sinti Platz zu machen. Stirnrunzelnd blickte er ihm nach, dann ging er zum Tisch und ließ sich Abu Dun gegenüber auf einen Stuhl sinken.

»Wie geht es dir?«, fragte er noch einmal.

Abu Dun trank einen gewaltigen Schluck Wein und griff nach dem Krug, um seinen Becher neu zu füllen, bevor er antwortete. »Gut! Es braucht schon etwas mehr als ein paar vorlaute Bälger, um Abu Dun umzubringen. Jedenfalls geht's mir nicht so schlimm, wie ich aussehe.«

Er nahm einen weiteren Schluck, und Andrej runzelte missbilligend die Stirn. Abu Dun war den Freuden des Weines nie abgeneigt gewesen, und auch Andrej wusste einen guten Schluck dann und wann zu schätzen. Aber jetzt war nicht der Moment dazu.