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Andrej fuhr wie unter einem Hieb zusammen, und auch Abu Dun machte ein betroffenes Gesicht und biss sich auf die Unterlippe. Er musste nicht sagen, dass ihm seine Worte Leid taten.

Eine Zeit lang schwiegen sie, standen einfach nur da und starrten aneinander vorbei. Schließlich sagte Andrej in die immer quälender werdende Stille hinein: »Worauf willst du hinaus, Abu Dun?«

»Wenn ich das wüsste«, antwortete der Nubier bekümmert. »Alles, was ich sagen kann, ist, dass hier etwas nicht stimmt. Mit diesem Ort, mit diesen unheimlichen Kindern, und auch nicht mit diesen angeblichen Zigeunern. Ich weiß, du willst es nicht mehr hören, und ich weiß auch deine Antwort schon, aber trotzdem: Lass uns von hier verschwinden, Andrej. Diese Leute ... machen mir Angst.«

»Seit wann gibt es irgendetwas, das dir Angst macht?«

»Seit heute«, antwortete Abu Dun ernst.

Tatsächlich dachte Andrej einige Augenblicke lang ernsthaft über die Worte des Nubiers nach. So haarsträubend das alles auch klingen mochte, tief in sich spürte er, dass sie der Wahrheit näher kamen, als ihm recht war. Und darauf, dass hier etwas ganz und gar nicht so war, wie es aussah, war er selbst schon vor Tagen gekommen. Dennoch schüttelte er schließlich den Kopf. »Nein. Noch nicht, Abu Dun.«

»Warum?«, fragte Abu Dun. »Glaubst du wirklich, du würdest hier noch irgendetwas in Erfahrung bringen?« Er schüttelte heftig den Kopf, und seine Augen blitzten. »Anka wird dir nicht mehr sagen, als sie dir schon gesagt hat. Wir werden hier nichts finden, Andrej. Außer vielleicht unseren Untergang.«

»Du verstehst nicht«, sagte Andrej. »Selbst, wenn ich wollte, wir können nicht gehen. Als du gestern Abend im Fieber dagelegen hast, sind Männer aus der Stadt gekommen. Sie haben es nicht direkt ausgesprochen, aber ich denke, sie glauben, dass Laurus oder einer aus der Sippe für den Überfall auf Pater Flock und die Mühle verantwortlich ist. Die Sinti dürfen diesen Ort nicht verlassen.«

»Mach' dich nicht lächerlich, Andrej«, antwortete Abu Dun. »Seit wann hat es dich je interessiert, was du darfst oder nicht? Wer will uns daran hindern, auf unsere Pferde zu steigen und davon zureiten?«

»Niemand«, sagte Andrej. »Aber Laurus und seine Familie würden dafür bezahlen.«

»Und vor allem sein Weib, nicht wahr?« Andrej nickte. »Auch sie. Du hast Recht, Abu Dun. Es hat mich nie geschert, wenn jemand für das bezahlen muss, was er selbst getan hat, auch wenn der Preis hoch war. Aber es kümmert mich sehr wohl, wenn ein Unschuldiger diesen Preis bezahlen muss.«

»Wenn er unschuldig ist«, sagte Abu Dun. Andrej verzog das Gesicht. »Ja, sicher. Jetzt wirst du gleich sagen, dass es Elena war, die das Rattenpack geschickt hat.«

»Und wenn?«, fragte Abu Dun.

Andrej musste sich beherrschen, um halbwegs ruhig zu antworten. »Du weißt ganz genau, wer es war. Du hast sie gesehen. Genau wie ich.«

»Ich weiß nicht, was ich gesehen habe«, sagte der Nubier. »Sie sahen aus wie Kinder, aber wer sie wirklich waren ...« Fast verzweifelt hob er die Hände. »Es ist, glaube ich, das erste Mal, dass ich einem eurer Kirchenvertreter zustimme, aber Vielleicht hatte dieser Flock ja Recht. Vielleicht sind es Dämonen.«

»Ich werde jedenfalls nicht davonlaufen«, beharrte Andrej.

»Und wenn ich dich darum bitte?«

Andrej war fassungslos. »Du bittest mich, vor einer Gefahr zu fliehen? Das ist das erste Mal, dass ich das erlebe.«

»Es ist auch das erste Mal, dass ich dich so erlebe«, antwortete Abu Dun ernst. »Glaub mir, Andrej, was immer wir hier finden werden, du bist ihm nicht gewachsen. Ich weiß, dass du nicht viel von meinen Ahnungen hältst, aber ich bitte dich inständig, diesmal auf mich zu hören. Etwas Schreckliches wird passieren, wenn wir hier bleiben.«

Das Schlimmste war, dass Andrej wusste, dass der Freund Recht hatte. Seit sie auf diese Sippe scheinbar harmloser Zigeuner getroffen waren, hatte er mehr und mehr das Gefühl, auf einen Abgrund zuzustraucheln. Ein Abgrund, der zwar noch zu weit entfernt war, um sein wahres Wesen schon zu erkennen, dessen Sog er sich aber schon jetzt nicht mehr entziehen konnte. Und doch konnte er nicht zurück. Nicht jetzt, wo er vielleicht so dicht davor stand, die Antworten auf all die Fragen zu finden, die ihn Zeit seines Lebens gequält hatten.

Und nicht jetzt, wo Elena vielleicht in großer Gefahr war.

»Nein«, sagte er ruhig, aber so bestimmt, dass Abu Dun verstehen musste, wie sinnlos es war, das Gespräch fortzusetzen. »Vielleicht hast du sogar Recht. Ich verlange nicht, dass du hier bleibst. Nimm dein Pferd und reite davon. Laurus wird nicht versuchen, dich aufzuhalten. Und ich werde schon eine Erklärung für dein Verschwinden finden.«

»Du weißt, dass ich das nicht kann«, sagte Abu Dun.

»Aber du solltest es«, antwortete Andrej. »Ich meine es Ernst. Das hier geht allein mich etwas an. Ich kann nicht verlangen, dass du dein Leben riskierst, nur weil ich ein paar Antworten suche.«

Der Nubier sah ihn lange traurig an, dann schüttelte er den Kopf und sagte: »Dann lässt du mir keine andere Wahl.« Mit diesen Worten drehte er sich um und ging davon. Gegen seine innere Überzeugung und die immer lauter werdende Stimme ignorierend, die ihn warnte, es nicht zu tun, hatte Andrej Basons Einladung schließlich doch angenommen und war ihm zum Wagen seiner Stiefeltern gefolgt, um mit Elena, Laurus und den anderen zu essen. Bason hatte nicht übertrieben - seine Schwester und Stiefmutter war tatsächlich eine ausgezeichnete Köchin - aber die Mahlzeit verlief trotzdem in einer angespannten Atmosphäre. Laurus sprach nur wenig, und wenn, dann über unverfänglich allgemeine Themen, während Bason und Rason herumalberten, und das auf einem Niveau, das nicht nur Andrej schnell auf die Nerven ging. Elena indes sagte während der ganzen Mahlzeit nichts, abgesehen von der einen Gelegenheit, bei der sie sich erkundigte, ob es schmeckte - doch sie nutzte jeden Vorwand, um Andrej anzusehen, und zwei oder drei Mal lächelte sie ihn offen an und schenkte ihm dabei einen so unübersehbaren zweideutigen Blick, dass Laurus schon hätte blind sein müssen, um das nicht zu sehen. Andrej war froh, als er sich endlich unter einem Vorwand zurückziehen konnte.

Der Rest des Tages war kaum besser. Andrej stürzte sich wie besessen auf jede Arbeit, die er fand, aber weder die Bewegung noch die kräftige Mahlzeit vom Mittag halfen ihm wirklich, Müdigkeit und Schwäche zu überwinden. Als am Abend die Feuer angezündet wurden und die ersten, noch vereinzelten Gäste ins Lager zu strömen begannen, war er so müde, dass er sich ab liebsten sofort wieder in seinen Wagen zurückgezogen und schlafen gelegt hätte.

Statt dessen machte er sich auf den Weg zu Abu Duns Zelt. Er hatte den Nubier den ganzen Tag über nicht wiedergesehen und auch nicht nach ihm gesucht, und er fand ihn auch jetzt nicht. Als er aber das Zelt wieder verließ und sich umwandte, da stand Bason vor ihm.

»Ich habe dich gesucht«, sagte der Sinti. »Wohin gehst du?«

»Ich wollte mit Abu Dun sprechen«, antwortete Andrej.

Bason schüttelte den Kopf. »Er ist nicht im Lager.«

»Nicht im Lager?«, fragte Andrej überrascht. Er warf noch einmal einen Blick ins Zelt: Abu Duns Satteltaschen lagen am Boden, und ein Teil seiner Habseligkeiten war überall im Zelt verstreut. Hätte irgendein anderer hier gewohnt, hätte man annehmen können, jemand hätte dessen Sachen durchwühlt. Abu Dun aber war der vielleicht unordentlichste Mensch, den Andrej kannte. Er hätte eher Misstrauen geschöpft, wenn sein Lager aufgeräumt gewesen wäre. So wie es schien, hatte Abu Dun sein Angebot nicht angenommen und sich in aller Heimlichkeit davongemacht.

»Wo ist er?«, fragte Andrej.

Bason hob die Schultern. »Er ist vor einer Stunde oder so weggeritten. Ziemlich schnell. Ich weiß nicht, wohin.« Er machte ein besorgtes Gesicht. »Ich hoffe, Laurus merkt es nicht. Er hat strengste Anweisung gegeben, dass niemand das Lager verlässt.«